Wer etwas über die Liebe wissen will, sollte Mozart hören. Und so seine Leidenschaft für die Oper entdecken

Hamburg. Niemand kann in die Zukunft schauen. Es braucht allerdings keine hellseherischen Fähigkeiten, um zu wissen: 2013 wird ein Opernjahr. Schließlich feiern gleich drei Meister des Musiktheaters Jubiläen: Vor 200 Jahren wurden Wagner und Verdi geboren, 100 Jahre später Benjamin Britten. Landauf, landab werden die drei also in den Spielplänen auftauchen: in Neuproduktionen, Wiederaufnahmen und Retrospektiven, in Konzerten und Vorträgen. Und mit ihnen die welthaltigste, allumfassendste Kunstform der westlichen Zivilisation.

Worum geht es in der Oper? Um Macht und Intrigen, Ehre und Erfolg? Wir haben nicht nachgezählt, aber unsere gefühlte Statistik sagt: 99 Prozent aller Opern handeln von der Liebe. Annähernd jeder Konflikt auf der Bühne hat irgendwie mit ihr zu tun - und sei es mit verletzter, zurückgewiesener oder unerkannter Liebe. Aber Hand aufs Herz: Gilt das nicht für das Leben schlechthin?

Oper als Abbild des Lebens, so sollte es doch sein. Kaum einer hat das Menschheitsthema Liebe ähnlich geistreich, nuanciert und mit überwältigend warmem Blick in Töne gefasst wie Mozart. Wer seine Werke durchwandert, trifft auf lauter Individuen, wie man sie sich nicht feiner gezeichnet wünschen könnte. Mit allen Verwicklungen, die jedem, der ein Herz im Leibe hat, leidvoll bekannt sind. Mozart legt sich nicht fest. Darin ist er uns widersprüchlichen Menschenkindern ganz nah, und gerade dafür lieben wir seine Opern.

Die Offenheit ist ihr Kraftzentrum. Wer mit wem und warum nicht, an diesen saloppen Spruch erinnern sie manches Mal. "Don Giovanni" etwa beginnt mit einem wahren Showdown: Donna Anna ruft um Hilfe, weil ein Mann nächtens in ihr Zimmer eingedrungen ist. Später wird sie ihrem Verlobten Don Ottavio erzählen, sie hätte den Eindringling zunächst für ihn gehalten. Es sei aber nicht zum Äußersten gekommen. Ob Don Giovanni ihr nun einvernehmlich, gewaltsam oder gar nicht beigewohnt hat, das steht nirgends. Nur - warum hält Donna Anna den loyalen Don Ottavio, übrigens ein ziemlicher tenoraler Waschlappen, so lange hin? Sehnt sie sich insgeheim nach dem Testosteronbolzen Don Giovanni, Inbegriff des Verführers? Auch bei Susanna, der schlagfertigen Verlobten von Figaro, wissen wir nicht, ob sie den Avancen des lüsternen Grafen und Dienstherrn nicht doch ein klitzekleines bisschen nachgibt. Und was will Sarastro in der "Zauberflöte" von seiner Geisel, der Königstochter Pamina? Sollte es sich um einen Missbrauchsfall handeln?

Regisseure können sich hier trefflich austoben - und trefflich scheitern. Die Chancen dafür steigen, je exakter sie die Geschichte festschreiben wollen. Mozarts Opern ertragen das so wenig wie ein Schmetterling das Aufspießen. Es wäre viel zu kurz gegriffen, die Plots auf ein simples "Haben sie oder haben sie nicht?" zu reduzieren. Eine Frage führt hier zur nächsten: Was ist Liebe, was Begehren? Was steht hinter dieser Sehnsucht? Kommen wir je wieder von ihr los? Und, bitte: wie bloß?

Die Seelenlagen finden sich in durchaus unterschiedlicher Komplexität. In vielen Opern finden wir das hohe und das niedere Paar - ein Überbleibsel der barocken Opera seria mit ihren ernsten, hehren Stoffen, stereotypen Charakteren und oft himmelschreiend unlogischen Happy Ends. Die war zu Mozarts Zeit längst überwunden, dennoch spielt er mit ihrem Formenschatz. Markante Beispiele kennen wir aus der "Zauberflöte": Tamino und Pamina und sind als Prinz und Prinzessin zu höheren Weihen bestimmt, Papageno und Papagena dagegen sehen ihre Erfüllung erklärtermaßen im Zeugen einer unübersichtlichen Reihe von Kindern. Hier Zweifeln, Grübeln und - neudeutsch - aufschiebende Bedürfnisbefriedigung, dort fröhliche Fleischeslust.

Aber es sind beileibe nicht nur die Libretti, namentlich die des genialen Lorenzo da Ponte, dem wir die Textbücher zu "Le nozze di Figaro", "Don Giovanni" und "Così fan tutte" verdanken. Mozarts Musik illustriert die Handlung nicht einfach. Sie zieht die Deutung an sich, kommentiert, unterläuft, stellt infrage. Konstanzes Zofe Blondchen (ja, sie heißt so, Frauenfeindlichkeit war im 18. Jahrhundert noch nicht geächtet) beschimpft in der "Entführung aus dem Serail" den mürrischen Haremswächter. Aber vielleicht neckt sie ihn ja auch? Die Musik ist jedenfalls so fröhlich kokett wie die ganze Figur. Und wenn der treulose Graf im "Figaro" seine tief verletzte Gattin um Verzeihung bittet, dann vergibt sie ihm zwar in Worten. Aber die Musik ist so tieftraurig, wie Dur nur traurig sein kann, und lässt ahnen, dass dem guten Willen in Liebesdingen Grenzen gesetzt sind.

Eine ganze Oper hat Mozart dieser Erkenntnis gewidmet: seinen Laborversuch in Liebesdingen "Così fan tutte". Ein Verlobter verkleidet sich, um seinem Freund zu beweisen, dass dessen Verlobte sich von ihm verführen lassen wird - und der Freund tut umgekehrt das Gleiche. Das klingt zunächst nach den damals so verbreiteten wie simplen Verwechslungskomödien.

Doch was Mozart und Da Ponte hier anzetteln, ist ein Anschlag auf eine tragende bürgerliche Lebensgewissheit namens Ehe. Denn nicht nur die beiden Mädchen geraten in Verwirrung, sondern auch die beiden angeblichen Albaner, die ihnen den Hof machen, seit ihre Verlobten Hals über Kopf zu einem ebenso angeblichen Militäreinsatz abgereist sind. Am Schluss ist nichts mehr, wie es war, "alles auf Anfang" ist keine Option. Ein niederschmetternder Befund, gekleidet in sublime, himmelsstürmende Klänge.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Figur, die das erotische Flirren der Da-Ponte-Opern in sich zu vereinigen scheint, den Namen eines Engels trägt: Cherubino aus dem "Figaro" ist es, eine Hosenrolle, ein Jüngling aus gutem Hause mit betörend androgyner Ausstrahlung, der allem Weiblichen erliegt. "Non so più cosa son, cosa faccio", singt er atemlos und pianissimo, umflattert von Klarinetten- und Streicherfiguren: "Ich weiß nicht mehr, was ich bin und was ich tun soll", heißt das ungefähr. Wer weiß das schon in Liebesdingen?