Lars Saabye Christensens norwegischer Bestseller schäumt über vor Fantasie

Sein Spiegelbild kann Bernhard Hval nicht aushalten. Wenn er zum Friseur geht, dreht er den Frisiersessel von der reflektierenden Scheibe weg. Aber das ist nur eine von vielen Macken. Hval leidet an Waschzwang, an Kaufzwang, er knirscht mit den Zähnen, er knackt mit den Fingern, er trampelt, er spuckt, er flucht und mit dem Tourette-Syndrom ist er auch noch geschlagen. "Schwanz im Riesenrad", entfährt es ihm bei der Festrede zum Abschluss der Medizinischen Fakultät, "Stutenprinz" sagt er in Anwesenheit des norwegischen Königs. Auch andere Schlüpfrigkeiten quellen bei jeder Gelegenheit ungewollt aus seinem Mund, nur bei den Sexspielen mit seiner Frau Sigrid helfen ihm die zotigen Ausdrucke als gegenseitige Stimulanz.

Hval ist ein Sonderling, doch er kommt mitten aus der norwegischen Gesellschaft. Er arbeitet als Arzt am Rikshospital in Oslo, war Jahrgangsbester und ist mit einer Frau aus gutem Hause verheiratet. Doch für Patienten und Kollegen sind seine Ticks nur schwer auszuhalten. Deshalb wird er in die Pathologie versetzt, wo er die Leichen präzise und in aller Stille seziert. Vor den Toten hat er keine Angst, nur vor den Menschen.

"Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval" heißt der Roman von Lars Saabye Christensen, in dem er das Leben dieses Außenseiters erzählt. Dafür benutzt er die Ich-Perspektive seines Protagonisten, der im Alter von 80 Jahren auf sein Leben zurückblickt und es in Form einer "Festrede" aufschreibt.

Bernhard Hval weiß um seine Ticks. "Ich war nicht der Verrückteste. Ich war nur der Zweitverrückteste", schreibt er zu Beginn seiner Aufzeichnungen. Der Verrückteste ist ein nur Milch trinkender und Bananen essender Landstreicher namens Notto Fipp. Ihn trifft Hval 1929 auf einer Straße, als er in seinem Roadster zu seiner Verlobten fährt. Hval ist fasziniert von diesem hageren Mann, der sein Lebensmotto in einem kurzen Satz auf den Punkt bringt: "Wenn ich gehe, denke ich weniger." Notto Fipp ist das Gegenteil von Bernhard Hval, denn der denkt unaufhörlich und lässt den Leser wortgewaltig teilhaben an all den Kapriolen, die sein Gehirn schlägt.

Christensens Roman gehörte nach seinem Erscheinen vor zwei Jahren zu den Bestsellern in Norwegen und Dänemark. Der Autor, 1953 in Oslo geboren, zählt zu den bedeutendsten Autoren in Norwegen. Mit Preisen überschüttet wurde er 2001 für seinen Roman "Der Halbbruder". In einem Interview mit der israelischen Zeitung "Haaretz" erzählt Christensen, dass er zum Schreiben gekommen sei, nachdem er als Teenager die Musik der Beatles entdeckt und Knut Hamsuns Roman "Hunger" gelesen habe. Die auch in Norwegen grassierende Beatlemania hat er in seinem Roman "Yesterday" verarbeitet, Hamsun taucht nun in "Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval" auf.

Christensen lässt Bernhard Hval und den Nobelpreisträger in Nizza aufeinandertreffen. Die erste Begegnung findet dort in einem Hotel statt, die nächste vor dem Kasino. Hamsun erleidet einen Herzanfall, Hval will ihm helfen, doch der Dichter zischt ihn an: "Fass mich nicht an!" "Ich bin Arzt. Der beste meines Jahrgangs", erwidert Hval. Hamsuns Replik ist barsch: "Das ist mir scheißegal."

Hval gibt dem Dichter dennoch eine Herzmassage, doch Dank bekommt er dafür nicht. Eigentlich ist auch Knut Hamsun trotz seiner überragenden Fähigkeiten als Erzähler ein Sonderling gewesen. Er verteidigte die Politik der deutschen Nationalsozialisten und würdigte Hitler in einem Nachruf als "Krieger für die Menschheit". Gegen Ende des Romans sinniert Bernhard Hval darüber nach, ob es nicht besser gewesen wäre, Hamsun in Nizza sterben zu lassen, "bevor er sich in alles verwickelte."

Christensen zeigt sich in diesem komischen, unterhaltsamen, aber auch nachdenklichen Epos als großer Erzähler. Jede Romanfigur bekommt durch die genaue Beschreibung und Charakterisierung ein Eigenleben, auch die Randfiguren wie Hvals stämmige Frau Sigrid, ihre überspannte Freundin Tora, der knöcherne Chefarzt Dr. Lund oder seine lesbische Mutter, die mit einer Geliebten nach Neuseeland fährt und den Sohn allein in Norwegen zurücklässt.

Auf mehr als 600 Seiten lässt Lars Saabye Christensen dem Irrsinn des Bernhard Hval freien Lauf. Der Pathologe ist zwar ein gesellschaftlicher Außenseiter, doch seine Weltsicht ist offener als die seiner Umwelt. Als Leser ist man immer auf der Seite dieses Verlierers, weil er eine große Menschlichkeit in sich trägt und fähig zu wahrer Freundschaft ist.

Durch die ungewöhnliche Perspektive Bernhard Hvals bekommen Konventionen in ihrer Absurdität besonders scharfe Konturen und zuweilen fragt man sich, wer eigentlich die wahrhaft Wahnsinnigen sind. Im Schlusskapitel wird Hval aus dem Rikshospital geworfen, weil er seine Doktorarbeit abgeschrieben haben soll. "Sie haben einen Defekt. Sie sehen alles in einem anderen Licht. Sie sind nicht in derselben Welt zu Hause wie wir", sagt ihm der Krankenhausdirektor.

Aber Hval zeigt Vernunft angesichts der Nazis, die Norwegen im Zweiten Weltkrieg besetzt haben. Er gehört nicht zu den Mitläufern und Verrätern, sondern erkennt die Bedrohung durch Hitler und seine Schergen. Nachdem er Bilder von Hitlers Machtübernahme und Tausende von Menschen mit in die Luft gereckten Armen gesehen hatte, "war abrupt Schluss mit den eigenen Armschwüngen." Bernhard Hval wird von einem neuen Zwang heimgesucht: Er betet.

Lars Saabye Christensen: "Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval" deutsch v. Christel Hildebrandt, Btb, 624 S., 21,99 Euro