Ein furioser Romanbeginn: Jaffy Browns Kopf steckt im Rachen des Tigers. Jamrach, der Besitzer einer exotischen Tierhandlung, aus der die Raubkatze entlaufen ist, greift beherzt ein und rettet den Achtjährigen.

Für Jaffy Brown, Erzähler und Hauptfigur dieses Romans, ist dieser Vorfall ein Wendepunkt in seinem Leben. Der Junge ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Geboren in den Londoner Docklands wächst er vaterlos auf, unter Matrosen und Huren. Seine Mutter versucht, die beiden mit Gelegenheitsjobs am Leben zu erhalten (Oliver Twist und David Copperfield lassen grüßen). Jamrach, der Tierhändler und Retter, ist beeindruckt von dem Mut des kleinen Jaffy und bietet ihm Arbeit als Tierpfleger in seiner Menagerie an. Alles wird besser: Jaffy lernt lesen und schreiben und freundet sich mit dem Geschwisterpaar Tim und Ishbel an. Eine Freundschaft, die ihn sein Leben lang nie verlassen wird.

Jaffy hat eine glückliche Hand mit exotischen Tieren und entwickelt sich zum Tierflüsterer. In der Menagerie lernt er Dan Rymer kennen, einen Tierfänger, der für einen reichen Exzentriker einen Drachen sucht. Es gibt das Gerücht, auf einer Insel im Indischen Ozean lebten diese Tiere. Jaffy ist jetzt 15 und nennt sich Jaf. Die Kindheit ist vorbei. Er und sein Freund Tim heuern auf dem Walfänger an, der auch einen Drachen für Tierhändler Rymer beschaffen soll. Wal- und Drachenfang gelingen (der Drache ist ein Waran). Doch mit dem Drachen an Bord verlässt die Mannschaft das Glück. Eine abenteuerliche Reise führt sie tief hinein in die Stürme des Indischen Ozeans.

Vom Inhalt wird nicht mehr verraten. "Der Atem der Welt" ist ein ungeheuer spannender Roman über Seefahrt, den Kampf ums Überleben, die Verlorenheit auf hoher See und über eine bewegende Freundschaft, die selbst das Unfassbare überdauert. Der Autorin Carol Birch gelingt es, uns ins viktorianische London bis zu den Wellen des Indischen Ozeans mitzunehmen. Mit der schillernden Magie ihrer Sprache zieht sie uns ins 19. Jahrhundert hinein. "Der Atem der Welt" stand auf der Shortlist des Man Booker Prize 2011, des wichtigsten britischen Literaturpreises. Für mich ist dieser Roman das größte atemlose Leseabenteuer in diesem Herbst.

Carol Birch: "Der Atem der Welt" deutsch von Christel Dormagen, Insel Verlag, 393 Seiten, 19,95 €