Die Premiere von “Begehren“ im Thalia Gaußstraße spielte konsequent mit der Erwartungshaltung des Publikums

Hamburg. Manchmal bahnt sich die Vergangenheit mit Macht einen Weg zurück ins Leben. Sickert erst leise herein, wie das Wasser, das sich fast unmerklich zu kleinen Seen auf der Bühne formt. Und Wahrheiten offenbart über das "Begehren". Über gefällte Entscheidungen, Abzweigungen an Weggabelungen, die man so oder anders hätte wählen können. "Begehren", so auch der Titel des Beziehungsdramas des Katalanen Josep M. Benet i Jornet, das die junge Regisseurin Alia Luque nun als kunstvoll minimalistisches Kopfdrama im Thalia an der Gaußstraße herausbrachte.

Wie Insekten unter dem Mikroskop begegnen einander die vier Akteure auf der von Christoph Rufer entwickelten schlichten schwarzen, von einem Halbrund eingefassten Bühne. Das Ehepaar, die namenlose "Sie", gespielt von einer farbenreich schillernden Oda Thormeyer und "Der Ehemann", ein wundervoll emotional verbarrikadierter Matthias Leja. Man hat sich ohne die gemeinsamen Töchter ins einsame Wochenenddomizil zurückgezogen, doch die Kommunikation stockt.

"Sie" hat notorisch schlechte Laune, was nicht am nahenden 50. Geburtstag liegt, wie der Zuschauer am Ende erfahren wird. "Der Ehemann" bedrängt sie, sie wehrt ihn ab. Streits eskalieren. "Reg dich nicht auf. Ich verkaufe niemanden für dumm", sagt "Der Ehemann". "Du bringst mich total durcheinander", antwortet "Sie", seine Antwort: "Wie schön!" Fast erwartet man nun schon den Besuch eines die kaputte Zweisamkeit spiegelnden befreundeten Paares und den voltenreichen Ablauf eines Ehekrisen-Konversationsstückes. So hätten es sich Yasmina Reza oder Roland Schimmelpfennig ausgedacht.

Doch hier geschehen merkwürdige Dinge, ein fast thrillerhafter Plot entfaltet sich. Eine anonyme Anruferin atmet wortlos am Telefon, nachdem sie "Sie" verlangt hat. Auf dem Weg zum einzigen Supermarkt trifft "Sie" dreimal hintereinander einen mit Panne gestrandeten, ihr winkenden Mann. Irgendwann begreift "Sie", wer gemeint ist und hält an. "Der Mann" (Tilo Werner), todkrank, hat eine Mission. Man umkreist sich mit Worten und vernebelt die wahren Absichten. An der Tankstelle trifft "Sie" dann scheinbar zufällig auf "Die Frau" (Christina Geiße), die ihr unverlangt eine Geschichte aufdrängt von ihrer einzigen, unvergesslichen Liebe vor 17 Jahren, die sich seither wie ein dickes Seil um ihre Existenz legt und ihr die Luft zum Atmen raubt. Die Auflösung des Plots soll hier nicht verraten werden und ist im Grunde auch unwichtig, um die Faszination des Abends zu erklären, bei der es um das Begehren an sich geht. So, wie es einst Platon beschrieb, als eine vom Selbst empfundene Leerstelle, die sich erst im Nachgang auf ein Objekt des Wollens verlegt.

"Verstehen Sie?", sagt "Der Mann", den Tilo Werner mit unterschwelliger Verzweiflung spielt. "Ich bin mir nicht sicher", lautet ihre Antwort. Tatsächlich scheinen alle Figuren ihren Gefühlen ausgeliefert. Sie begreifen nicht, was geschieht. Sie waren unfähig, ihr Glück zu ergreifen und sind es noch, doch am Ende wissen sie, dass sie sich bekennen müssen. Es erweist sich als ein Glücksfall, dieses auf Schlüsselszenen zugespitzte Stück derart minimalistisch umzusetzen, in denen die Darsteller, allen voran Oda Thormeyer, die Psychologie und Nöte ihrer Figuren mit schneidenden Worten und sparsamen Gesten vor uns ausbreiten.

Die raue und verknappte Sprache des Autors, die Alia Luque gemeinsam mit Susanne Meister selbst für ihre Fassung ins Deutsche übertragen hat, potenziert diese Kargheit. Sie sorgt dafür, dass sich das Geschehen zusehends in den Kopf des Zuschauers verlegt. So wie der dunkle Widerschein der Szenen im Halbrund durch die größer werdenden Pfützen.

Nur vordergründig folgt "Begehren" einem Erzählstrang, eine Spezialität des Autors. Tatsächlich unterläuft Josep M. Benet i Jornet ständig die Erwartungshaltung des Zuschauers, indem er Türen der Geschichte öffnet, doch die Zugänge dahinter vermauert. Ihn staunend und rätselnd davorstehen lässt. Genau diese Brüche sind es, die den Freiraum für Assoziationen bieten, den viele Gegenwartsdramen vermissen lassen. Und so denkt mit Sicherheit jeder im Saal irgendwann an eine Liebe, die ihn vielleicht auch vor 17 Jahren ereilte und verwirrte. Und die gelegentlich einsickert in das eigene Leben.

"Begehren" weitere Termine 23.12., 8. + 15.1. 2013, Thalia in der Gaußstraße, T. 32 81 44 44