Überspitzung als Mittel der Aufklärung: Tuvia Tenenboms Buch “Allein unter Deutschen“. Über Antisemitismus und Vorurteile.

Hamburg. Wer sind die Deutschen? Wie ist ihr Verhältnis zur Vergangenheit und zu den Juden? Was denken sie so, die Deutschen, über Gott und die Welt? Um das herauszufinden, überlegte sich der New Yorker Theatermacher Tuvia Tenenbom, der auch in Hamburg inszeniert hat, um das zu erfahren, muss ich ein paar Monate durch Deutschland reisen. Land und Leute kennenlernen, teilnehmende Beobachtung. Dann ein Buch schreiben.

Das Buch ist jetzt da, nach einigen Querelen bei dem Vorhaben, es zu publizieren, und ersten Streitereien bezüglich der Resonanz, denn es ist, natürlich, ein polarisierendes Buch. Gott und die Welt, Land und Leute, die Deutschen und das alles in einer verteufelt hochtourigen Fahrt durch die Heimat von Hitler und Holocaust: Das ist mutig. Und anmaßend. Zunächst sollte "Allein unter Deutschen" bei Rowohlt erscheinen. Man trennte sich im Streit. Tenenbom hatte nicht die Einwilligung aller Interviewpartner eingeholt, Rowohlt hatte auch formale Bedenken; der Autor warf Rowohlt unter Verlagsleiter Alexander Fest vor, in einer Art und Weise Zensur zu üben, "die einem iranischen Verleger unter den Ayatollahs gut zu Gesicht gestanden hätte". So erschien das Buch zunächst in Amerika, ehe sich Suhrkamp für eine Veröffentlichung entschied. Verlagsleiter Thomas Sparr bezeichnete das Buch als "sehr eigenwillige, zugespitzte Reportage".

Im Vorfeld der Veröffentlichung dann, nach einem durchaus ausgewogenen Artikel im "Spiegel", reagierte Tenenbom scharf auf den Text des Journalisten Wolfgang Höbel und veröffentlichte einen offenen Brief, in dem er Höbel Unprofessionalität unterstellte.

"Allein unter Deutschen" läuft auf die Behauptung zu, dass wir Deutschen immer noch "eingefleischte Antisemiten" sind. Wer glaubt, dass die Deutschen sich geändert haben, der glaubt in der Logik Tenenboms wohl auch an die Redlichkeit desjenigen, der differenziert. Das genau ist nicht die Sache des 1957 in Tel Aviv geborenen Nachfahren deutscher und polnischer Juden. Er reist im Sommer 2010 von Hamburg aus, dem "Fixpunkt" in Deutschland (er ist Kolumnist der "Zeit"), ins Ruhrgebiet, nach München, Sachsen, Berlin, Frankfurt, in die Städte und die Provinz. Er trifft Helmut Schmidt, die Journalisten Giovanni di Lorenzo und Kai Diekmann, Helge Schneider, den Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland, Deutschtürken und deutschdeutsche, Fußballfans und Künstler.

Der auf gewisse Weise durchaus unvoreingenommene, glänzende Ironiker Tenenbom gibt bereitwillig deutsche Stereotypen wider. Und die Aussage eines Gesprächspartners, der selbstgewiss ein Paradoxon ausspricht: "Ihr Amerikaner verallgemeinert alle immer ständig."

Ja, "Allein unter Deutschen" ist ein mal humorvolles, mal bitterböses Buch, und stilbildend ist neben der Verallgemeinerung die Übertreibung. Da ist einer, der möchte Deutschland kennenlernen, seinen Stolz verstehen, seine Fetische, seinen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis der Menschheit und das, was sein soziales Leben ausmacht, dazu muss er Autofabriken besuchen und Kneipen, Demos und Theater, die Oberammergauer Passionsspiele und das Public Viewing auf der Fanmeile in Berlin. Klischee-Alarm? Aber Hallo!

Und doch ist es eindrucksvoll, von einem Außenstehenden serviert zu bekommen, was man doch alles eh schon weiß. Bei einer Umfrage im Schanzenviertel wird natürlich keiner sagen, dass er "stolz" ist, ein Deutscher zu sein, aber auch anderswo findet Tenenbom fast niemanden, der Patriotismus für eine gute Idee hält. Dafür hat er es umso mehr mit der Sorte rechtschaffener Deutscher zu tun, die der Publizist Henryk M. Broder so gerne und zu Recht unter Beschuss nimmt und die genau genommen Tenenboms einzige Kronzeugen für den nicht verschwindenden deutschen Antisemitismus sind - manische Israel-Kritiker, die für die Palästinenser eintreten (was ja nicht schlecht sein muss) und gleichzeitig wie kleine gutmenschelnde Wadenbeißer den israelischen Despoten ans Leder wollen.

Da kann man Tenenboms Ärger verstehen, und seine Idiosynkrasie, seine übertriebene Empfindlichkeit gegenüber besserwisserischen Gastgebern darf man auch nicht überbewerten. Freilich bleibt Tenenbom, der intelligente und bisweilen schwer erträglich bohrende Fragensteller, auf seltsame Weise genauso stumpf und unsensibel wie sein jeweiliger Widerpart, er ist so unentspannt wie der gemeine Deutsche eben auch - und das ist nicht nur seiner Erzähltechnik geschuldet, die unbedingt einseitig und konfrontativ sein will, weil sie, das denkt Tenenbom, nur so zur Wahrheit vordringt.

Was erwartet er, wenn er an der Münchner Uni Jura-Studenten nach ihrer Meinung zum israelischen Beschuss mehrerer Schiffe im Mai 2010 fragt, bei dem neun Friedensaktivisten ums Leben kamen? Tenenbom scheint nichts über den Pazifismus zu wissen, den Deutsche heute quasi mit der Muttermilch aufsaugen. Und weiß er nicht, dass er, der oft absichtlich schreiend komische und absurde Interviewsituationen hervorruft, nicht unbedingt alle Antworten todernst nehmen muss, ja, dass er noch nicht einmal das Recht dazu hat? Warum ist er überrascht, dass sich die Deutschen wie "besessen" mit Juden beschäftigen?

Man kann über die Art und Weise dieser Beschäftigung streiten - aber das Aufmerksamkeitslevel der Deutschen gleich komplett in die Tonne treten?

"Allein unter Deutschen" ist das Werk eines leicht Erregbaren, der nicht unsympathisch ist, obwohl er am Ende, nach einer langen Reise, krass loskeilt: "Diese Deutschen haben kein Rückgrat, keinen Stolz, keine Ahnung und nur sehr wenig Menschlichkeit. Tausendmal am Tag sagen sie peace and love , ohne es wirklich zu meinen. Mit zwei Fingern machen sie das Friedenszeichen, ihre Herzen singen aber Sieg Heil ."

Dabei könnte man es doch auch ganz anders ausdrücken und einfach nur von den enervierenden Weltverbesserern in diesem Lande sprechen, die sich berufen fühlen, den Nahostkonflikt auszunutzen für die eigene psychische Entlastung: Schaut her, die bösen Israelis, sie sind auch nicht besser als wir. 22 Prozent der Deutschen haben antisemitische Einstellungen, und vielleicht erfüllt Tenenboms subjektive Entdeckungsreise, die auf unterhaltsame Weise den Versuch einer Mentalitätsbeschreibung unternimmt, ihren Zweck darin, eine Ausweitung der Beunruhigungszone zu betreiben. Auch die Überspitzung ist ein Mittel der Aufklärung.

Tuvia Tenenbom: "Allein unter Deutschen. Eine Entdeckungsreise". Suhrkamp, 424 S., 16,99 €