Das Stück, das zur Adventszeit nun einmal sein muss, ohne Effekthascherei: Bachs Weihnachtsoratorium mit dem Balthasar-Neumann-Ensemble.

Hamburg. Viel ist diskutiert worden über den dramatischen Gehalt der bachschen Oratorien: Darf man ein sakrales Werk musikalisch so bildhaft ausleuchten wie eine Oper? Darf der Evangelist in den Passionen den Hahn naturalistisch nachahmen, dessen Krähen Petrus an seinen Verrat erinnert? Die Vertreter der historischen Aufführungspraxis stürzen sich auf solche kompositorischen Breitseiten oftmals bis zur lautmalerischen Karikatur.

Thomas Hengelbrock macht das mal wieder anders. Der Chefdirigent des NDR Sinfonieorchesters wird hierzulande häufig als Speerspitze der Originalklangbewegung apostrophiert, will sich darauf aber mitnichten festgelegt sehen. Wie abhold er dem fanatischen Spezialistentum ist, war am vergangenen Freitag in der Laeiszhalle zu hören. Da war er mit dem von ihm gegründeten Balthasar-Neumann-Chor und Balthasar-Neumann-Ensemble zu Gast in der Reihe "NDR Das Alte Werk". Mit dem Stück, das in der Adventszeit nun mal sein muss: mit Bachs Weihnachtsoratorium.

Aus den sechs Kantaten des Werks hatten die Künstler die Nummern eins und vier bis sechs ausgesucht - eine wohltuende Abwechslung zur allzu üblichen Übung, nur die ersten drei Kantaten zu spielen. Den Evangelisten und die Tenor-Arien sang Tilman Lichdi mit klarer, beweglicher Stimme im Duktus eines Geschichtenerzählers, er folgte in der Gestaltung dem Spannungsbogen des Textes. Alle anderen Soli übernahmen Chorsänger. Kein Starkult, keine Exaltation, nirgends. Was diese beiden hörbar aufeinander eingeschworenen Gruppen zu Gehör brachten, hatte tatsächlich die Innigkeit und Tiefe eines Gottesdienstes.

Das fing bei den Chorälen an, die ja das theologische Herz der Oratorien bilden. Hengelbrock nahm sie als das, was sie sind: vierstimmige Kirchenlieder. Ohne ausufernde Fermaten, in ruhig fließenden Tempi und fern davon, diese schlichten Gebilde effektvoll aufzurüschen. Stattdessen konnte man jede Stimme wie einen Faden im Gewebe verfolgen. Vom sportlich-ruppigen Gestus vieler Barockensembles war dieses Weihnachtsoratorium denkbar weit entfernt.

Im einleitenden "Jauchzet, frohlocket" sang der Chor weite Legatobögen. Das Orchester tupfte weiche Begleitachtel, auch das Strahlen der Trompeten hatte nichts Vordergründiges. Und die Streicher ließen die winzigen Noten der Tongirlanden mit jener Mühelosigkeit funkeln, für die es eben doch einen Barockbogen braucht.

Zumal bei den Tempi. Jenseits der Choräle nahm Hengelbrock nämlich vieles durchaus zügig. Die Koloraturen der Tenorgruppe im Eingangschor zur fünften Kantate gelangen perfekt, und selbst wo die Sänger das "Ehre sei dir" mal flüsterten, war noch jede Silbe zu verstehen.

Die ergreifendsten Momente an diesem Abend waren die leisen - die, in denen der gläubige Mensch das Wort an den Heiland richtet: "Mein Jesus!", sang der Bass, der hier stellvertretend für die hervorragenden, namentlich leider nicht zuzuordnenden Chorsolisten genannt sei. "Wenn ich sterbe, so weiß ich, dass ich nicht verderbe." Ganz zart, wie im Zwiegespräch und diskret umhüllt von einem fast entmaterialisierten Streicherklang.