Die Doku “Das Venedig Prinzip“ malt ein düsteres Bild der Lagunenstadt

58.000 Einwohner hat Venedig heute, ebenso viele Touristen kommen in die Stadt - und zwar täglich. Dieses groteske Zahlenverhältnis, mit dem ein eingeblendeter Schriftzug den Kinogänger zu Beginn dieses Films informiert, muss man erst einmal verdauen. Die Bilder von den Touristenmassen, die sich über schmale Brücken und durch enge Gassen nur langsam fortbewegen können, sind erschreckend. Man versteht es, wenn eine Einheimische später erzählt, auf den berühmten Markusplatz gehe sie erst um zwei Uhr nachts, wenn es dort leer sei.

Fast nur ältere Menschen sieht man unter den Einwohnern; während die Jungen wegen steigender Mieten fortziehen müssen, berichten die Alteingesessenen vom Verschwinden des öffentlichen Lebens; so wurde die Hauptpost 2010 geschlossen, das Gebäude an den Benetton-Konzern verkauft. Die Kommune hat kapituliert und sich damit abgefunden, dass das Geld der Touristen direkt in die Taschen der Großkonzerne fließt. Dass sie einen kostenlosen Shuttleservice zu den Glasfabriken von Murano anbietet, ist da nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, nachdem 40 Prozent der Glasproduktion wegen chinesischer Imitate schließen mussten.

Die Kamera von Attila Boa fängt das emsige Treiben der Touristen ebenso ein wie kostbare Momente der Ruhe, der Kommentar des Filmemachers Andreas Pichler kann sich auf eingeschobene Schriftzüge beschränken. Irgendwann wird Venedig eine Stadt sein, in der niemand mehr lebt, die nur zur Kulisse für durchreisende Touristenströme geworden ist. Einmal spricht eine Fremdenführerin davon, dass die Touristen nicht die Wahrheit über Venedig hören wollen, sondern eine Bestätigung ihres romantischen Bildes von der Lagunenstadt verlangen. Am Ende fragt sich der Zuschauer, der vielleicht mit einem Venedig-Besuch liebäugelt, ob er wirklich vor Ort die traurige Realität schauen will oder lieber sein romantisches Bild im Herzen bewahrt.

Bewertung: empfehlenswert

"Das Venedig Prinzip" Deutschland/Österreich 2012, 80 Minuten, o. A., R: Andreas Pichler, täglich im Abaton; http://venedigprinzip.de