Die Pianistin Alice Sara Ott spielt am 10. Dezember in der Hamburger Laeiszhalle Werke von Mozart, Schubert und die “Bilder einer Ausstellung“.

Hätte es Alice Sara Ott, diese akustisch wie optisch gleichermaßen bemerkenswerte Pianistin, vor 35 Jahren schon gegeben, dann wäre der Klassik die große Krise vielleicht nie passiert. Was dieser Sparte der Kultur heute fehlt, ist ja vor allem Publikum zwischen 30 und 45, also Leute, die Mitte, Ende der 70er-Jahre jung waren. Damals war Klassik so ungefähr das Graueste vom Grauen. Die Künstler waren wahrscheinlich mindestens so bedeutend wie heute, aber sie kamen alle scheintot rüber. Der Musikunterricht, die Älteren werden sich dunkel entsinnen, bestand in der Regel aus Notendiktaten, Singen und Abfragen von Lebensdaten und Werken großer Komponisten. Ödere Stunden gab es kaum. Und die Musik, die einen eigentlich interessierte, die fand ganz woanders statt.

Mangels attraktiver junger Klassik-Interpretinnen, die zuverlässig wenigstens unser pubertäres Interesse geweckt hätten, schleimten sich die schlauen unter den Musiklehrern der Republik damals bei uns mithilfe einer Rock-Bearbeitung jenes Stücks ein, das beim Recital von Alice Sara Ott am Montag in seiner ganzen, schönen Originalgestalt zu hören sein wird: "Bilder einer Ausstellung" von Modest Mussorgsky. Das Original (und die Orchesterfassung von Maurice Ravel) bekamen wir natürlich auch zu hören, um, ähnlich wie auf der vorletzten Seite der damals einzigen Fernsehzeitschrift "Hörzu", "Original und Fälschung" voneinander unterscheiden zu lernen. Die Fälschung war der didaktische Köder: eine in einer braunen Hülle steckende LP, die die Dekomposition und Rekonstruktion von Mussorgkys musikalischem Galeriespaziergang mit allen Mitteln der Rockmusik enthielt, "Pictures At An Exhibition" des britischen Trios Emerson, Lake & Palmer. Ob das 1971 im Studio aufgenommene Album und die spätere Live-Fassung dem Test der Zeit standhalten, bleibe dahingestellt. Heimlich, still und leise aber machten ELP mit ihrer damals enorm aufregenden Bombast-Paraphrase die vermeintlich so dröge Klassik zumindest ansatzweise dann doch jugendzimmertauglich.

Aber ich schweife ab. Schließlich gilt es hier, die Pianistin Alice Sara Ott zu würdigen, die sich als eine der kaum mehr zählbaren großartigen jungen Musikerinnen mit ihren 24 Jahren schon einen festen Platz auf dem Klavierhocker der großen Bühnen der Welt erobert hat. Wenn sie jetzt im Zyklus A der "Meisterpianisten" bei Pro arte in die Laeiszhalle zurückkehrt, hat sie auch Schuberts Sonate D-Dur 850 und Mozarts selten gespielte Duport-Variationen vorbereitet - für Kenner ihres bisherigen Plattenkatalogs betritt sie damit gleich dreifach Neuland.

Ihre letzte Soloaufnahme galt Beethoven-Sonaten, mit Thomas Hengelbrock und den Münchner Philharmonikern hat sie Klavierkonzerte von Liszt und Tschaikowsky aufgenommen. Und nach ihrem Debüt mit einem reinen Liszt-Programm kam 2010 eine schöne Aufnahme mit allen Chopin-Walzern.

Nach wie vor zieht die edle Plattenfirma Deutsche Grammophon die Tochter einer Japanerin und eines Deutschen lieber mehr aus als schön an, wenn ein Fotoshooting oder ein PR-Video ansteht, Sex sells. Wie es scheint, hadert die Künstlerin damit nicht. "Die Leute fänden es bestimmt doof, wenn wir im Jogginganzug spielen würden", sagt sie. "Andererseits: Wenn ein Mann wie Arkadi Volodos oder Grigory Sokolov spielt, interessiert sich niemand dafür, wie er angezogen ist. Da geht es nur um Musik." Und, ätsch, gutes Aussehen allein nütze am Ende auch nichts, ohne musikalische Persönlichkeit setze sich niemand durch.

Nur um die Musik geht es auch ihr. Am liebsten würde Alice Sara Ott, die zu den Meisterschülern des kürzlich verstorbenen Karl-Heinz Kämmerling gehörte, in einem stark abgedunkelten Raum spielen, um sich und das Publikum ganz auf die Sphäre des Hörens einzuschwören (Sokolov tut das). Am liebsten würde sie barfuß spielen.

Gern verwendet Alice Sara Ott das Bild vom Fingerabdruck - eine Metapher, die bei der auch manuellen Tätigkeit des Klavierspielens nicht ganz fern liegt. Jede Aufnahme sei ein solcher Fingerabdruck, er bleibe für die Ewigkeit. Sie aber schreite voran und blicke nicht zurück. Ein Konzert aber bleibt bei aller Intensität des Augenblicks etwas Flüchtiges; immateriell, wie es ist, hinterlässt es allenfalls eine Berührung, eine Spur im Gedächtnis. Und die kann kostbarer sein als jede CD.

Alice Sara Ott, Mo 10.12., 19.30, Laeiszhalle (U Gänsemarkt) Johannes-Brahms-Platz, Tickets 15,- bis 45,- unter T. 01805/66 36 61