Vor etwa 7500 begeisterten Fans in der Hamburger O2 World beschwor der Sänger Lionel Richie auch die eigene musikalische Vergangenheit.

Hamburg. Das Setting sah bedenklich aus, nach einer Party für gesetzte Herrschaften. Als ginge es zu einem Gottesdienst des Songs mit Leonard Cohen, hatten die Veranstalter den Innenraum der O2 World am Montag komplett bestuhlt, in sehr freier Auslegung der berühmten Songzeile des Headliners Lionel Richie "Dancing In The Klappstuhl". Tatsächlich machten es sich die wahlweise als Pärchen oder in kleinen bis mittleren Frauengruppen angereisten Fans (manche davon zeigten schon im Shuttlebus unverhohlen Männergewinnerzielungsabsicht) noch auf den Sitzpolstern gemütlich, während Lokalmatadorin Oceana über die Bühne tobte. Die Hamburger R'n'B-Röhre, die deutlich an Format gewönne, wenn sie ihren stimmlichen Dauerturbo ab und an mal etwas herunterregeln würde, durfte eine knappe halbe Stunde lang die Honneurs für den Meister aus Tuskegee, Alabama, machen.

Der aber kassierte die vermeintliche Abhäng-Erlaubnis im Saal gleich mit den ersten Takten. Lionel Richie, 63, zeigte Konditionsstärke, ungebrochenen Sex-Appeal und größte Entschlossenheit, sich zu amüsieren und die laut Veranstalterangaben rund 7500 Zuhörer zum Tanzen zu bringen. Das gelang zwar nur am Rande der Halle, aber aus den Sitzen riss der Crooner mit dem Schnauzbart sein sichtlich begeistertes Publikum immer wieder.

Im Verlauf des nahezu zweistündigen Konzerts wurde immer deutlicher, dass Richie wie selbstverständlich an den Platz gerückt ist, der durch Michael Jacksons frühen Tod frei wurde: den des schwarzen Musik-Entertainers, der, tief im Funk und R'n'B der späten 60er, frühen 70er-Jahre wurzelnd, sich später weit in die Pop-Präferenzen eines weißen Publikums hineinbewegt hat und dem es heute gelingt, gerade durch eine stärkere Rückbesinnung auf seine Wurzeln beide Welten miteinander in Harmonie zu bringen. Als Gründungsmitglied der Commodores lieferte Richie damals die Blaupause für den cleanen Saxofon-Pop von Bands wie Supertramp oder Gerry Rafferty und erlag bald selbst den Lockungen des Softie-Funks. Wie viel elektrische Kraft vor allem im Frühwerk der Commodores steckt, zeigten Richie und sein unglaublich spielfreudiges Quintett in einem schön ausführlichen Medley aus den Motown-Jahren, wobei eine fantastische Version von "Brick House" den Höhepunkt bildete.

Balladeskes wie "Still" oder "Oh No" und manche Kostprobe aus dem eigenen Schmalztöpfchen verschob Lionel Richie klug in Solonummern am kleinen Flügel. Die den Eltern gewidmete Ballade "Three Times A Lady", die von intakten Familienverhältnissen zumindest in der Generation vor ihm kündet, brachte Lionel Richie sichtlich bewegt, knapp vor der Selbstergriffenheit. So schuf er Intimität und Atempause und wurde fühlbar als starkes Ego mit verletzlicher Seele - notwendiges Gegenbild zum gespielt gravitätischen Habitus des Predigers, mit dem Richie, der Lustige, sonst durchs Programm führte.

In Songs wie "On My Way" oder dem einstmals als Duett mit Diana Ross gesungenen "Endless Love" konnte sich der Entertainer auf die selige Mitwirkung des Publikums beim Refrain verlassen, ebenso bei der etwas ins Käsige kippenden Nummer "Say You, Say Me".

Seine Begleitband vorzustellen sparte sich Richie, dabei hätten die Musiker, die auch als Chorknaben eine exzellente Figur machten, etwas mehr Aufmerksamkeit verdient. Die schenkte er dafür ihrem Spiel. Der Saxofonist klang stellenweise wie Michel Brecker auf Speed, blies fast so schön Mundharmonika wie Stevie Wonder und drückte, wo immer nötig, Tasten auf einem Keyboard. Fehlende Stimmen zum Bläsersatz, Akkorde und uferlos gute Sounds lieferte ein schwarzer Keyboarder. Die Gitarre spielte ein zum Heavyrock neigender Virtuose, dessen Mini-Solo auf der halbakustischen Gibson Lust auf mehr in dieser Richtung machte. Bass und Schlagzeug: zum Fürchten gut und mächtig. Und ja, "All Night Long" gab's zum guten Schluss natürlich auch. Der Song ist immer noch: groß.