In seinem Studio Clouds Hill in Rothenburgsort produziert Johann Scheerer feinsinnige Musik, etwa an einem historischen Mischpult.

Hamburg. Wo entsteht Kunst? Im Kopf. Im Herzen. Klar. Aber welche Eigenschaften muss ein realer Raum besitzen, damit Kreativität nicht bloß abgebildet wird, sondern wächst? In dem Kopf und Herz weit werden. Für Johann Scheerer ist die Antwort klar: "Ich möchte mich zu Hause fühlen. Die Atmosphäre soll so wenig Befangenheit wie möglich ausstrahlen."

Diese Philosophie hat der 30-Jährige für sein Musikstudio in Rothenburgsort auf 350 Quadratmetern wohnlich und charmant in die Tat umgesetzt. Clouds Hill Recordings hat er sein künstlerisches Refugium bei der Gründung vor sechs Jahren genannt. Nach dem Rückzugsort von Lawrence von Arabien. Und die Metapher passt.

Die verwinkelt gelegenen Zimmer atmen Patina, Behaglichkeit und Aufbruchsgeist gleichermaßen. Kleine Büros grenzen an die große Küche. Auf dem langen, groben Holztisch stehen Obst und belegte Brötchen bereit. Auf der Anrichte liegt ein Haufen Ingwer, der eine Legion Sänger durch den Winter bringen könnte. Ein großer schwarzer Hund trabt durchs Bild. Den Flur ziert ein Flipperautomat mit den geschminkten Konterfeis der Band Kiss.

Die Aufnahmeräume wiederum gleichen musikalischen Wunderkammern, in denen es neben einer üppigen Auswahl an Standardinstrumenten wie Gitarre, Bass, Schlagzeug, Flügel und Orgeln auch zahlreiche Klangerzeuger und Effektgeräte zu entdecken gibt, die den Einfallsreichtum der vergangenen Jahrzehnte widerspiegeln. Etwa den Maestro Rover, einen rotierenden Verstärker, der an eine alte Wäschetrommel erinnert und der Gitarrensound in ein hallendes Leiern verwandeln kann. In etwas Warmes, Interessantes.

"Mir geht es darum, dass Leute hier gute Ideen haben", sagt Scheerer - weißes Hemd, blaue Strickjacke, hippes Understatement - und lässt sich im Regieraum des Studios in einen Ledersessel zurückfallen. Er hat das seltene Talent, über sein Schaffen ernst und zugleich entspannt zu reden. Gestochen scharf blickt er aus seinem bärtigen Gesicht. "Vor allem nachmittags hat das hier mitunter richtigen Factory-Charakter", erzählt Scheerer. Etwa wenn zwei Bands parallel in dem Gebäude im industriellen, elbnahen Hinterland arbeiten. Und da können durchaus stilistische Welten aufeinandertreffen.

Um das Studio und zusätzlich 500 Quadratmeter Wohnfläche für die Künstler zu finanzieren, setzt Scheerer auf eine Mischkalkulation. Große Plattenfirmen mieten sich für einen Tagessatz von rund 1000 Euro ein, damit Acts wie Peter Maffay, Guano Apes, Lena Meyer-Landrut, Sportfreunde Stiller oder Bela B. ihre Musik aufnehmen und produzieren können. Geld, das Scheerer nutzt, um kleine, feine Projekte zu verwirklichen, die er auf dem 2009 gegründeten Label Clouds Hill veröffentlicht. Eine Plattform für den Musiker und Produzenten, um seine Vorstellungen von Klang zu realisieren.

"Ich überlege mir immer: Was für eine Stimmung, Farbe, Tiefe möchte ich herstellen? Was für einen Raum möchte ich als Hörer vor mir sehen?", erklärt Scheerer. Sein Ziel ist es, Emotionen auszulösen, ohne ästhetische Erwartungen zu bedienen. Ohne den Bass prototypisch knallen und die Gitarre gängig knarzen zu lassen. Viel habe er zum Beispiel bei der Arbeit mit den Hamburger Krautrockern Faust gelernt. Die explosive Performance der Avantgardisten zählt - inklusive Kettensäge und Presslufthammer - auch zu den eindringlichsten, die jetzt der Film "Live at Clouds Hill" zeigt.

Die DVD mit mehr als drei Stunden Session-Material liegt der dritten Vinylbox des Labels bei und demonstriert zugleich dessen Bandbreite: Die Londoner von Gallon Drunk brachialrocken facettenreich. Die Texaner von Bosnian Rainbows treiben düster ihre Melodien voran. Und die Hamburger von The Building schichten sphärische Sounds aufeinander. "Ich will nicht die hundertste Rockplatte abliefern, da würde ich verrückt werden", sagt Scheerer und schaut auf sein technisches Herzstück eines jeden Aufnahmeprozesses, auf die wuchtige Konsole "Neve 8078". Das Mischpult ließ sich Beatles-Produzent George Martin 1978 eigens anfertigen, später ging es in den Besitz von Daniel Lanois über, der vor allem mit seinen Arbeiten für U2 Erfolge feierte. Doch das historisch aufgeladene Gerät ist für Scheerer keineswegs ein Erfolgsgarant.

"Das bedeutet nichts. Kein Lied wird dadurch besser", erklärt er resolut. Aber das Mischpult steht für eine bestimmte Haltung. Dafür, Entscheidungen fällen zu müssen. Denn im Vergleich zu modernen Exemplaren, bei denen jeder Zustand der Aufnahme jederzeit digital abrufbar ist, ist die Speicherkapazität des geschichtsträchtigen Monstrums begrenzt. Einen Song nachträglich umzuwandeln oder zu "reparieren" funktioniert kaum. Und das liegt auch nicht in Scheerers Interesse. Der experimentiert lieber mit Geräuschen wie fließendem Wasser, Pingpongspiel und Schreibmaschinen-Pling, die sich nach seiner Bearbeitung zum Beispiel sehr selbstverständlich zu dem intimen Gesang des Berliners Allie fügen.

Der junge Musiker ist neben Scheerers Band Karamel, der Chanteuse Dillon und weiteren Acts auch am 15. Dezember beim Clouds Hill Festival zu erleben. In den Räumen des Studios. Und bekannt ist ja: Die besten Partys finden im Privaten statt. Zu Hause eben.

Clouds-Hill-Festival mit Dillon, Anika, Karamel, Allie Sa 15.12., 19.30, Billwerder Neuer Deich 72, 26,- im Vvk. unter www.reservix.de. Die Vinylbox "Live at Clouds Hill ..." inkl. DVD (VÖ 14.12.) kann vorbestellt werden unter: www.clouds-hill.com