Das Hamburg Ballett feierte mit John Crankos Meisterchoreografie “Onegin“ eine heftig bejubelte Premiere an der Staatsoper.

Hamburg. Die Erste Solistin liegt bäuchlings auf dem Boden und liest in einem Buch. Kein glamouröses Entree für die Primaballerina. In einem russischen Klassiker wie "Dornröschen" oder "Schwanensee" wäre dieser "Auftritt" unvorstellbar. Und glich 1965 in Stuttgart bei der Uraufführung von John Crankos Ballett "Onegin" geradezu einem Sakrileg. Der Choreograf wagte es, den Alltag ins Ballett zu holen und Menschen wie du und ich zu zeigen - anstatt der auf Spitze Arabesquen oder virtuose Pirouetten demonstrierenden Tänzer. Das ist Crankos eigentliches Verdienst und das seines damals bahnbrechenden, auch ziemlich umstrittenen Meisterwerks, das Schule machen sollte - und so läuft dann 1971 in John Neumeiers "Romeo und Julia" die Titelheldin nach dem Bad barfuß, mit offenen Haaren und im Handtuch auf die Bühne.

Als Hommage an das Vorbild und den Lehrmeister präsentiert Neumeier in seiner 40. Jubiläumsspielzeit "Onegin" in der zweiten Neuproduktion seit 1984. Die aufwendigen Dekorationen und Kostüme nach Jürgen Roses Originalentwürfen entstanden in Kostenteilung mit dem Royal Ballet in London, das die Ausstattung auch für seine Inszenierung am Covent Garden nützt. In der Hamburg-Premiere steigerten sich Silvia Azzoni und Alexandre Riabko als unglückliches Liebespaar von Akt zu Akt bis zum finalen hochdramatischen Pas de deux, dem absoluten Höhepunkt und Solisten-Prüfstein jeder "Onegin"-Aufführung und ernteten vom Publikum Standing Ovations. Es feierte aber auch Leslie Heylmann und Thiago Bordin für ihre ausstrahlungsstarke Interpretation von Olga und Lenski mit verdienten Bravos.

Denn bis heute gültig an Crankos wegweisendem modernen Klassiker ist ebenso das unvergängliche und zeitlose Drama um die Liebe - unabhängig vom russischen Milieu und den damaligen Ehrbegriffen, wie sie Alexander Puschkin in seinem Roman "Eugen Onegin" schildert. Zwar umrahmt das Credo "Wenn ich keine Ehre habe, existiert die Ehre nicht mehr" Onegins Initialen auf dem Zwischenvorhang. Doch dient der Satz eher zur Erklärung der Duellszene zwischen Onegin und Lenski, als er Riabkos Interpretation des selbstverliebten Frauenhelden bestimmt.

Der schwebt bei Riabko in anderen Sphären, hält sich wohl für etwas Größeres bestimmt, als sich mit einer unerfahrenen Gutsbesitzertochter wie Tatjana einzulassen, die sich rettungslos in den rätselhaften Mann in Schwarz verliebt. Beim Blick ins Buch, vermutlich einem sentimentalen Schmöker, verzieht er verächtlich das Gesicht. Im ersten Pas de deux bleibt sie steif und starr in seinen Armen, wirft sich ihm aber in der fantasierten Traumszene des "Spiegel-Pas de deux" hemmungslos und leidenschaftlich an den Hals. Doch in der Realität zerreißt der Angehimmelte ungerührt ihren Brief.

Es gehört zu Crankos Kunstgriffen, die Gedanken und Gefühle der Protagonisten in den zentralen Pas de deux auszudrücken. So verleiht er dem ersten gelösten Duett zwischen Olga und Lenski den leichtfüßigen Schwung frisch verliebten Glücks. Leslie Heylmann scheint in ihres Dichters Armen gleichsam wie im siebten Himmel zu den Harfenakkorden zu schweben.

Karl-Heinz Stolze hat die Musik-Collage aus Peter Tschaikowskys Kompositionen gestrickt wie Bühnenbildner Jürgen Rose die durchbrochenen Vorhänge in Tatjanas Boudoir üppig, doch etwas zu bombastisch klöppeln ließ. Stolze arrangierte und instrumentierte Tänze und Stücke für Klavier, etwa aus dem Zyklus "Die Jahreszeiten", verwendete auch Opernmelodien, allerdings nicht aus "Eugen Onegin", sondern aus "Oxanas Launen" und verwob sie zu einem effektvollen Klangteppich für das Ballett, farbig und spannungsvoll musiziert von den Philharmonikern mit dem Dirigenten James Tuggle.

Aus Langeweile und Laune macht Onegin auf Tatjanas Geburtstagsfest ihrer Schwester Olga den Hof, provoziert Eifersucht und Ehrgefühl seines Freundes Lenski, der ihn zum Duell fordert. Die Zweier-Szenen sind kontrastreich eingebettet in die großen Ensembles mit Gesellschaftstänzen. Es wird Walzer getanzt, Mazurka und Polka, wobei im Reigen der jungen Paare gichtgeplagte Alte grotesk mithopsen. Soll komisch sein, ist es aber nicht, genauso wenig wie die Patzer in der Gruppe bei der Polonaise im dritten Akt. Dafür gelingt Azzoni und Carsten Jung als Fürst Gremin ein harmonisches Duo ehelichen Glücks, das den dramatischen Gegensatz zum letzten Treffen zwischen Tatjana und Onegin noch betont.

Sobald es um große Emotionen geht, ist auch Riabko ganz in seinem Element, der sich als Homme à femmes und zynischer Verführer in seiner Haut nicht so recht wohlzufühlen scheint. Den Mann, dem alle Frauenherzen zufliegen, reizt offenbar nur, was unerreichbar ist. Da meint er Liebe zu fühlen und versucht nun, die verheiratete Tatjana zu erobern. In seinen Pirouetten dreht sich der eitle Poseur nicht mehr um sich selbst, sondern drückt den Wirbelsturm der Gefühle aus, in den er Tatjana unter demütigen Kniefällen hineinzureißen versucht. Sie erliegt kurz seinem Begehren. Doch ist sie es jetzt, die seinen Brief um Vergebung zurückweist. Grandios choreografiert und grandios getanzt.

Das Drama einer unerfüllten Liebe lässt sich im Kontext seiner Entstehungszeit in den konservativ repressiven Jahren Mitte der 60er noch anders lesen: Homosexualität war damals nicht "alltäglich" wie heute. Der schwule Choreograf erzählt mit Tatjanas Leiden auch von einem jungen Mann, der sich in den für ihn unerreichbaren Onegin verliebt und aus gesellschaftlichen Gründen in eine sozial akzeptierte Verbindung flüchtet. Diese Sicht drängt sich nicht nur einen Abend nach dem Welt-Aids-Tag auf.

Der weltweite Dauererfolg des Balletts wurzelt nämlich in der Vielschichtigkeit und dem Interpretationsspielraum aufseiten der Tänzer wie der Zuschauer, weshalb man auch auf die weiteren Besetzungen gespannt sein darf. Ein Vergleich wäre sicherlich reizvoll.

"Onegin", 7., 10., 12.12., jeweils 19.30, 16.12. um 19.00, Staatsoper, Karten unter T. 35 68 68, www.hamburgballett.de

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