François Ozon lässt im Drama “In ihrem Haus“ Fabrice Luchini und Ernst Umhauer allerlei Obsessionen erforschen.

Ach, wäre das schön. Einmal die Gegenwart ergreifen. In eine Geschichte einhüllen. Sie verweben, verwandeln und manipulieren, bis sie sich zur eigenen Vorstellung fügt. Sich den geheimsten Sehnsüchten anpasst. Sehr kunstvoll spielt der französische Regiewunderknabe François Ozon mit dieser Idee in seinem neuen Film "In ihrem Haus".

Zwei Menschen begegnen einander, deren Obsessionen so übermächtig werden, dass sie sich ihrer kaum erwehren können. Der frustrierte Französisch-Lehrer Germain (Fabrice Luchini) sieht sich mit einer weiteren gelangweilten Klasse konfrontiert, die mit hoher Poesie nichts im Sinn hat und dazu kläglich banale Texte abliefert. Einziger Lichtblick scheint der verschlossene Claude (Ernst Umhauer). Der Jugendliche liefert ein stilistisch raffiniertes, voyeuristisches Erzählstück ab. Er hilft seinem Schulkumpel in Mathe, erschleicht sich das Vertrauen von dessen Familie und nimmt jede Gelegenheit wahr, die Mutter, eine "gelangweilte Mittelstandsfrau", gespielt von Emmanuelle Seigner, zu observieren.

Getrieben vom Ehrgeiz, einen eigenen früheren schriftstellerischen Misserfolg zu korrigieren, steigt Germain in die Geschichte ein und bringt Claude dazu, das Schreiben und auch die zweifelhafte Recherche, von der man nie genau weiß, ist sie wirklich erlebt oder vom Autoren-Ich erdacht, weiterzutreiben. Claude gelingt, was Germain nie geschafft hat: eine sprichwörtliche Nähe zu seinen Figuren aufzubauen. Das Spiel mit der Fiktion wird für Germain zum existenziellen Bedürfnis, auch zum Inhalt seiner längst erstarrten Ehe mit der Galeristin Jeanne (Kristin Scott Thomas). Schließlich gewinnt es wahnhafte Züge.

Der Film basiert auf dem Theaterstück des Spaniers Juan Mayorga, der hier so treffend mit den Regeln fiktiven Schreibens spielt wie Ozon mit den Techniken und Erwartungen des Films. Der Zuschauer wird selbst zum Voyeur, der nach jedem "Fortsetzung folgt" süchtiger darauf brennt, den Fortgang der Handlung zu erfahren.

Abseits des Hauptstrangs garniert Ozon diese Spannungsmomente mit ironischen Seitenhieben auf das Intellektuellenwesen und die französische kunstbeflissene Mittelklasse. Fabrice Luchini gibt einen herrlich verkniffenen Pädagogen ab, und Ernst Umhauer gewinnt eine Faszination, die jener gleicht, die Tadzio in Thomas Manns "Tod in Venedig" unsterblich werden ließ. Ein junger bildhübscher Mann als Projektionsfläche für verborgene Sehnsüchte. Wobei sich hier die ödipale Anziehung in dessen Faszination für die Mutter des Freundes manifestiert, die ihrerseits in ihrer glanzlosen Ehe dahinvegetiert. Kristin Scott Thomas wiederum brilliert als Galeristin mit frustverdunkeltem Herzen und bestechendem Geist. Aber jede noch so gute Geschichte birgt die Gefahr, sich in ihr zu verlieren. Seine Verstrickung lässt Germain sogar seine Existenz aufs Spiel setzen.

"In ihrem Haus" ist ein Beispiel für den ungewöhnlichen Stilreichtum seines Regisseurs. In seiner Präzision, seiner konsequenten Konzentration auf wenige Figuren ist er ein Glanzstück an Raffinesse. Er verleugnet seine Wurzeln in der Tradition der Nouvelle Vague nicht. Und erhielt verdient den Fipresci-Preis des Toronto Filmfestivals und den Hauptpreis des Internationalen Filmfestivals San Sebastián sowie den Preis für das beste Drehbuch.

Ozon hat bekanntlich mehrere Passionen. Er hat gesellschaftliche, mit Musicalmelodien gespickte Satiren wie zuletzt "Das Schmuckstück" verfilmt, vertrackte Melodramen, etwa die Abschiedssymphonie "Unter dem Sand" oder auch kuriose Sozialdramen wie die Fabel "Ricky". In seinem Thriller "Swimming Pool", diesem persönlichsten seiner Filme, legte er seine eigene Methode offen. Und blieb dabei wie immer leichtfüßig.

Dieser Erzählform wendet er sich in "In ihrem Haus" erneut mit großer Könnerschaft zu. Ozon spielt nicht nur mit geschlechtlichen Konventionen. Er führt das Verbotene vor, in aller Konsequenz für die Sehnsuchtstrunkenen. Realität und Imagination überlappen einander, Grenzen lösen sich auf. Insofern erzählt "In ihrem Haus" vom ewigen Zauber nicht nur der wahrhaft mächtigen Poesie, sondern auch des Kinos. Während wir fiebrig zuschauen und miträtseln.

Bewertung: empfehlenswert

"In ihrem Haus" F 2012, 105 Minuten, ab 12 Jahren, R: François Ozon, D: Fabrice Luchini, Ernst Umhauer, Kristin Scott Thomas, Emmanuelle Seigner, täglich im Holi, Koralle, Zeise; Infos im Internet: www.inihremhaus-defilm.de