God's Entertainment fordert auf Kampnagel beim “Messer-Mord“ nach Büchners “Woyzeck“ das Publikum zum Mitmachen auf.

Hamburg. "Wer war Woyzeck?" Die Zuschauer hocken wie Pennäler in Schulbänken unterm scharfen Blick einer kantigen Paukerin. "Ja, du bist gemeint, steh auf!" Der Angesprochene gehorcht. "Hast du das Stück gelesen?" Halblautes "Nein". Wer es kennt, weiß jetzt: Wir sollen mal das Gefühl von Drill und Druck kennenlernen, das der arme Soldat in Büchners Dramenfragment erduldet, ihn aus Eifersucht und Ohnmacht ins Verbrechen treibt, vom Opfer zum Täter werden lässt. "Kannst du uns mal Moral definieren? Komm vor, und schreib es an die Tafel!" Im Publikum regt sich Widerstand gegen den Fragenterror und Kommandoton, er wird sogar geäußert. Das Erscheinen zweier finsterer Männer bricht ihn. Ungemütliche Stille. Die Schergen picken sich Zuschauer heraus, reißen ihnen den Stuhl weg und werfen ihn krachend vor die Tür.

Das alles ist Spiel. Und wirkt doch anders, als wenn man eine "Woyzeck"-Aufführung zurückgelehnt im Parkettsessel aus sicherer Distanz verfolgt. Das Wiener Künstler-Kollektiv God's Entertainment ist bekannt für Reality-Theater. Im "Fight Club realtekken" oder im "Love Club" konnten Zuschauer per Joysticks durch Lichtsignale Akteure manipulieren, die sich - je nach Lust der Leute am Machthebel - mehr oder weniger krass in die Fresse schlugen oder sexuell befummelten. Hier dreht God's Entertainment den Spieß um: Die acht "Woyzecke", aus der Haft entlassene Straftäter aus Berlin, Hamburg und Wien, lassen sich zwar - wie in der Gesellschaft und den Medien Usus - unter der Schlagzeile "Messer-Mord: Klinge steckte noch in der Brust" in engen Holzkäfigen ausstellen und als exotische "Kreaturen" vorführen. Sie führen aber ihrerseits mit verbalen Angriffen und zum Stück analogen Szenenfragmenten auch die Zuschauer vor und entlarven sie in ihrem Voyeurismus, den die Sensationsmache der Boulevardpresse im Vorfeld der Aufführung noch "werbewirksam" schürte.

Also Theater "vorspielen" lassen und gemütlich zuschauen ist nicht. Mitmachen und mitdenken ist gefordert. Denn die Performance erzählt nicht das Drama des Franz Woyzeck nach, sondern spiegelt es in der (Spiel-)Gegenwart mit den wirklichen Gesetzesbrechern und ihren Geschichten. Im Kontext der assoziativen und sprunghaften Inszenierung werden sie zu Performern ihrer Biografie, ohne diese wirklich preiszugeben. Sie singen und tanzen wie in der "Wirtshaus"-Szene des Originals. Sie gehen zu Bett (Kaserne und Knast gleichen sich im Freiheitsentzug) und sprechen im Chor das Nachtgebet. Sie posieren mit Tattoos wie "Abnormitäten" in einer Schaubude auf dem Jahrmarkt und ermuntern das Publikum, sie doch zu bestaunen. Nur wenige tappen in die Falle.

Hinter einem Gitternetz stehen die "Gefangenen". Nummernschilder um den Hals verkünden die (abgesessenen) Haftjahre. Sie machen die Zuschauer an, versuchen in Dialog zu kommen, fordern sie auf, mit ihnen den Platz zu tauschen. Ganz Mutige probieren es. Wie fühlt es sich an, auf der anderen Seite zwischen den "Außenseitern" zu stehen? Wenn auch nur für ein paar Momente vermittelt sich beim Theaterspielen ein Stückchen aus dem Theater des Lebens.

Dann bieten sie für lumpige 1,20 Euro den Zuschauern ihre Dienstleistungen an: Massage, Stilberatung, Brillen- und Schuheputzen. Statt über den Menschen ("Was ist der Mensch?") zu philosophieren wie im Büchner-Stück, lobt ein Performer das Geld als Kunstwerk am Beispiel einer Banknote und enthüllt es hämisch als das eigentliche Übel in der materialistischen, unmenschlichen Welt.

God's Entertainment stellt in der Collage nach Büchners Werk, wie es der Dramatiker tut, den Umgang der Gesellschaft mit Verbrechen und Strafe kritisch zur Debatte. Wer den "Woyzeck" gelesen hat, ist naturgemäß im Vorteil, erkennt er doch Bezüge und Anspielungen der Akteure, um selbstständig Verbindungen zu knüpfen und sie weiterzuspinnen. Mit ihrem Mitmach-Spektakel rücken die Performer dem Besucher ernsthaft, humorvoll, selbstironisch und zuweilen auch unangenehm auf die Pelle. Allerdings geht es mit seinem spielerischen Stil und den klamaukigen Effekten (der Abtransport der Ex-Häftlinge unter Protestgeheul und Radau im ausgedienten Polizeiauto am Schluss) nicht wirklich unter die Haut und behält den für God's Entertainment schon im Kollektiv-Namen inhärenten Show-Charakter.

"Messer-Mord: Klinge steckte noch in der Brust" Vorstellungen bis 24.11., jeweils 20.00, Kampnagel, Jarrestraße 20, Karten zu 12,- unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de

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