Vor 150 Jahren wurde der Begründer der Sozialdramatik geboren. Er ist ein umstrittener, verehrter und nach wie vor hoch aktueller Dramatiker.

Hamburg. Gerhart Hauptmann ist als Autor fast vergessen, als Dramatiker ist er der Mann der Stunde. Zu Lebzeiten fing er die Stimmungslage der Erniedrigten und Beleidigten, vom Leben vernachlässigten oder geprügelten Kleinbürger ein. Damals, Ende des 19. Jahrhunderts, war es ein von den Folgen der Industrialisierung gezeichnetes Arbeitervolk, dem er eine realistische Stimme und eine unzerstörbare Würde verlieh. Heute formen Menschen vom Tagelöhner einer Medienfabrik bis zum ungelernten Arbeiter, den das hochtechnisierte, neoliberale System nicht braucht, ein neues Prekariat. Der Dramatiker Hauptmann liefert den Subtext zur Krise.

Zahlreiche Inszenierungen feiern den Dichter, der heute vor 150 Jahren im Schlesischen Ober Salzbrunn geboren wurde. Am Theater Kiel findet sich eine Version von "Die Ratten", in Hamburg steht dagegen kein Hauptmann auf einem Spielplan. "Wir konzentrieren uns bis auf zwei Klassiker auf zeitgenössische Autoren, die wir mit Stückaufträgen bedacht haben und die für das Spielfeld konzipiert wurden", so Jack Kurfess, Interimsintendant am Schauspielhaus. Auch im Thalia-Spielplan sucht man den Autor vergebens. "Ich schätze Hauptmann sehr und wir reden hier auch immer wieder über seine Stücke. Derzeit hat sich in unseren Regiekonstellationen keine Möglichkeit abgezeichnet", so Intendant Joachim Lux.

Das Deutsche Theater in Berlin richtet gleich drei Gerhart-Hauptmann-Tage aus mit den bewährten Michael-Thalheimer-Inszenierungen "Die Ratten" und "Die Weber". Beides Kaleidoskope des Schreckens, der Armut und Ausweglosigkeit derer "da unten" im Vergleich zu denen "da oben". Ein Dienstmädchen verkauft sein Kind an ein Ehepaar und will es später zurück. Arbeiter einer Weberei rebellieren gegen ihre durch Rationalisierung drastisch gefallenen Löhne. Das Stück ein einziger Wutbürger-Aufschrei.

Regisseur Armin Petras, der vor einigen Jahren "Die Ratten" am Thalia-Theater inszenierte, bringt am Berliner Maxim Gorki Theater den Bahnwärter Thiel mit Peter Kurth heraus. Petras waren schon immer die Menschen näher als irgendwelche theoretischen Diskurse. Und darin ist er ganz bei Hauptmann. Der Dichter fand nach ausgedehnten Reisen erst im brandenburgischen Erkner seine Objekte der Anschauung und Anlässe für seine Literatur, später auf Hiddensee und weiterhin in Schlesien seinen Lebensmittelpunkt. Er lauschte den Wäscherinnen und Fabrikarbeitern auf der Straße ihre Sorgen und Nöte ab. Verewigte sie in seinen Figuren, denen er ihren Sprachduktus beließ.

Hauptmann verfeinerte seine naturalistische Dramatik am Sturm und Drang und am Vormärz. Zeit seines Lebens konkurrierte er mit Thomas Mann um den Rang, Goethes legitimer Erbe zu sein. Im Drama "Vor Sonnenaufgang" (1889) schockte er das bürgerliche Publikum mit offenen Darstellungen von Sexualität und Alkoholismus.

"Die Weber", 1892 uraufgeführt und erst durch die preußische Zensur verboten, gelten bis heute als Manifest des sozialkritischen Naturalismus und brachten ihm den Durchbruch. Später folgten "Der Biberpelz" (1893), "Rose Bernd" (1903) und "Die Ratten" (1911). Weniger bekannt sind seine epischen Werke. 1912 erhielt Hauptmann den Nobelpreis für Literatur.

Nach den "Webern" zog sich Hauptmann immer häufiger in eine neoromantische Mystik zurück. Von den Mächtigen verschmäht und vom Bildungsbürgertum geliebt und hofiert zu werden, brachte ihm den vom Literaturkritiker Georg Lukács verhängten Titel eines "repräsentativen Dichters des bürgerlichen Deutschlands" ein. Auf seine späten Jahre fiel zudem ein unrühmlicher Schatten, da er unter den Nationalsozialisten weiterhin gelesen und gespielt wurde und Ehrungen entgegennahm.

Abseits der Bühnen sind seine Bücher in Vergessenheit geraten. Daran wird wohl auch die neue im Beck-Verlag erschienene Biografie des Berliner Germanisten Peter Sprengel, "Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum", nichts ändern. Sprengel entdeckt etwa in den "Webern" eine als politisch missverstandene "Mitleidsdramaturgie". Volker Lösch hatte für seine "Weber"-Inszenierung 2004 in Dresden skandalträchtig gleich einen ganzen Chor der Arbeitslosen auf die Bühne gebracht. Das Schlingern des Kapitalismus in der Krise ist allgegenwärtig. Und genau hier schlägt die Stunde des Gerhart Hauptmann.