Bei ihren zwei Konzerten bietet Sängerin Helene Fischer eine Show, die von Chanson über Country bis zu Discobeats keine Wünsche offenlässt.

Hamburg. Neulich mit der Schwägerin im Auto: Sie dreht den Zündschlüssel. Eine CD springt an. Und noch bevor die ersten Akkorde erklingen, entschuldigt sie sich eilig. Sie höre ja normalerweise andere Sachen. Pop. Rock. Coole Sachen eben. Aber letztens habe es da bei Aldi dieses Best-of-Album von Helene Fischer gegeben. "Manchmal", sagt sie, "da brauche ich das einfach." Aber was ist es, was offensichtlich sehr viele Menschen derzeit einfach mal brauchen? Das, wie jetzt in Hamburg, zweimal die O2 World füllte.

Am Dienstag kamen knapp 12 000 Fans. Auf dem Weg zum Shuttlebus läuft ein Paar um die 60. Er blaue Mütze und dunkle Jacke. Sie flache Schuhe und beigen Mantel. In jeder deutschen Fußgängerzone würden sie einen Unauffälligkeitspreis gewinnen. Aber das ist ihnen offenbar egal. Sie halten Händchen. Ganz fest. Als wollten sie sich gegenseitig stärken. Vielleicht haben sie Respekt vor dem Rummel, der sie erwartet. Vermutlich freuen sie sich aber einfach auf einen schönen Abend. Einen Abend, der die Liebe aus dem Alltag herauslöst. Der sie noch fester macht als die ineinanderverflochtenen Hände.

Im Verpflegungsring, der innen um die Halle verläuft, liegt süßes Parfüm in der Luft. Viele Frauen haben sich aufwendig frisiert. Föhnwellen, Haarsprayfransen, Strähnchen. Einige ältere Herren tragen Anzüge wie zu einer Familienfeier. Ein Mädchen in Rock und Stiefeln knabbert versonnen an seinen Fingernägeln. Worauf hoffen sie? Auf gute Unterhaltung, die größer ist als die eigenen vier Wände? Auf Stoff fürs Ich-war-dabei-Bürogespräch? Darauf, einfach mal wieder das Herz zu öffnen?

Auf einem Tisch liegen Blumen neben einer Schale Currywurst. Erst wird ernährt, dann verehrt. Und wer seinem Star langfristig öffentlich huldigen möchte, kauft sich am Merchandise-Stand das Helene-Fischer-Autoset. Rückspiegelschoner und Wimpel tragen ihr Konterfei. Die Sängerin als Deko-Ersatz nach der Fußball-EM. Eine gesamtdeutsche Projektionsfläche. Und eine eingetragene Marke. Patent.

Andere haben sich eigene Fanartikel gefertigt. Wie das Klübchen mit den selbst kopierten T-Shirts. Stolz tragen sie den Schriftzug "Helene's Alsterherzen". Sich zugehörig und verbunden fühlen, das ist, so wird sich noch häufig zeigen an diesem Abend, ein wichtiger Faktor bei "Helene", wie die meisten Anhänger ihren Star einfach nennen. Helene, das unerreichbare Mädchen von nebenan. In Sibirien geboren, mit der Familie nach Rheinland-Pfalz ausgesiedelt. Ihr Album "Für einen Tag" erlangte Platinstatus. Fischer ließe sich auch als Krisengewinnlerin bezeichnen. Denn die heile Welt(flucht), die sie besingt, hat wieder Konjunktur.

Bevor die 28-jährige Erfolgsfrau jedoch erscheint, schlüpft ein Anheizer hinterm türkisfarbenen Vorhang hervor. "Wir machen mit Ihnen heute ganz ganz große bundesdeutsche Unterhaltung", sagt er. Und ganz unrecht hat er nicht: Das Prinzip Fischer ist letztlich wie "Wetten, dass ..?". Für jeden soll etwas dabei sein. Für den Scherzbold, der in der Reihe hinter einem beherzt niest und dann sagt: "Braucht jemand ein Handtuch?" Und für die Dame mittleren Alters, die ihre Freundin zaghaft fragt: "Ich war beim Friseur. Steht mir das?" Humor, Unsicherheiten, kleine Sorgen und große Gefühle. Ein emotionaler Gemischtwarenladen.

"Da geht noch mehr", schreit der Anheizer und fordert kollektive Ekstase: "Spitze Schreie, spitze Schreie, spitze Schreie!" Ist ja gut. Der Kontrast zum Entree der Fischer ist nach so einem Hanswurst natürlich besonders groß.

Zu Pianoklängen fährt sie im Gegenlicht aus dem Bühnenboden empor und beginnt mit ihrem persönlichen Statement: "Dafür lebe ich/für den Traum im Rampenlicht." Dort angelangt, im Kegel der Scheinwerfer, wird sie unter heftigem Jubel sichtbar: In einem gelb-grünen Korsagenkleid, das blonde Haar fällt auf die Schultern.

Beats setzen ein, als dramatische Verstärkung kommt ein Saxofon hinzu. Theatral fällt der Vorhang und zum Vorschein kommen eine zwölfköpfige Band sowie Showtreppen samt Feuerwehrstangen für tänzerische Effekte. Bereits in diesem Moment ist klar: Die kommenden drei Stunden wird nicht gekleckert. Ob Fischer den Chanson-Engel im weißen Kleid gibt oder ihre Volksmusik im Vampkostüm verpackt, ob sie sich countryesk als Synthese von Taylor Swift und Dolly Parton präsentiert oder als Doro-Variante rockt, ob sie die Eurythmics interpretiert oder sich an Leonard Cohens "Hallelujah" wagt, ob sie über einen Schwenksteg zum Publikum schwebt oder im Funkenregen steht - mit ihrer Lust an der Las-Vegas-Inszenierung ist sie die amerikanischste der deutschen Künstler. Und während Zirkuspferde des Pop wie Christina Aguilera mit ihrem pompösen Auftreten oftmals antiseptisch wirken, hat Fischer den Vorteil der Kommunikation.

"Wie viele Teile hat das? 120? Das schaffe ich", erklärt Fischer bodenständig, als ihr ein Fan ein Puzzle überreicht. Überhaupt die Geschenke. Rosen, klar. Aber auch ein Plüschhund, Pralinen, Massageöl. Als die Prozession der Überbringer nicht enden will, fängt der Rest im Saal an zu buhen. Die Aufmerksamkeit wird ungern geteilt. Doch Fischer bedankt sich für jedes Präsent mit derart sanfter Stimme, als habe ihr Freund Florian Silbereisen ihr gerade eine Tiffany-Box unters Kopfkissen geschoben. Immer wieder betont sie: "Ihr seid gaaanz wichtig, ich brauche euch." Ihren Anhängern das Gefühl zu geben, gesehen zu werden und genau am richtigen Ort zu sein - das ist die fischersche Kunst des Entertainments.

Natürlich lässt sich diese Schlageroper sehr schnell einfach als Pathos abtun. Wie sich Fischer bei "Sehnsucht" ständig ans Herz fasst, wie sie mit einem Disney-Medley zu einer Reise in die Kindheit einlädt und wie sie für eine lateinamerikanische Version von "Nicht von dieser Welt" arg die Klischees von "heiß und feurig" bemüht. Aber mit ihrem Stilmix und ihrem Rollenspiel-Potpourri vereint sie Musikantenstadl-Klientel und "Glee"-Generation, Streisand-Liebhaber und Ballermann-Besucher. Das muss man nicht mögen. Aber das muss man auch erst mal schaffen.

Letztlich ist ein Fischer-Konzert wie ein Tortenbüfett. Irgendwann ergibt man sich einfach und verleibt sich das Süße ein. Und zum Glück bricht die Hauptdarstellerin den Kitsch auch immer wieder, schiebt etwa eine kleine, sogar etwas böse Heidi-Klum-Persiflage ein. Im Vergleich zu der ebenfalls sehr amerikanisierten Modelmoderatorin wirkt Fischer lockerer. Aber beide teilen den Hang zum Perfektionismus. Beim James-Bond-Medley nach der Pause wird Fischers (wirklich gute) Stimme anfangs vom Sound überlagert. Und da an dem Abend zudem eine DVD produziert wird (das Weihnachtsgeschäft ruft), wird die Passage nach den Zugaben schlichtweg nachgedreht.

Was bei Fischer auffällt, ist ihre unglaubliche Körperspannung. Beim Stolzieren auf High Heels, beim Tanzen. Wie einer ihrer Songs besagt: "Hundert Prozent". Träumen zu dürfen, sich seinen Sehnsüchten hinzugeben, ist harte Arbeit und erfordert Disziplin. Insofern ist Fischer die perfekte Metapher für all jene, die abheben, aber auch sicher wieder landen wollen. Eskapismus mit Bausparvertrag, sozusagen.