David Mitchell ist der Autor des Romans “Wolkenatlas“, der als Großproduktion “Cloud Atlas“ in dieser Woche ins Kino kommt.

Hamburg. Seuzfen, schniefen, Augen rollen. "Ach, lassen Sie uns jetzt nicht über das neue Buch reden." David Mitchell - hager, unscheinbar, sehr blaue Augen - ist vergrippt, hat den Lesereise-Blues in den Knochen und findet, nicht ganz zu Unrecht, dass er hinter seiner Teetasse "wie aufgewärmter Tod" aussieht. Als Bestseller-Autor, der in 19 Sprachen übersetzt wurde und dessen dritter Roman "Wolkenatlas" als 100-Millionen-Dollar-Großproduktion in dieser Woche in die Kinos kommt, sollte der Brite beim Harbour Front Literaturfestival seine PR-Pflicht tun: vor allem über "Die tausend Herbste des Jacob de Zoet" frohlocken, der mit feinem Pinsel gezeichneten Geschichte über einen holländischen Handlungsreisenden anno 1799 in Japan. Deswegen hat Mitchell ja schließlich das irische Örtchen verlassen, in dem er mit seiner japanischen Frau und zwei Kindern seit 2002 lebt und seine kunstvoll verhäkelten Fantasien zu Papier bringt.

Für die Verfilmung von "Wolkenatlas - Cloud Atlas" (der acht Jahre alte Mitchell-Wälzer, auf den wir doch noch kommen werden) muss sich der Popcorn-Kino-Stammgast jedenfalls warm anziehen. Tom "Lola rennt" Tykwer und die Wachowski-Geschwister ("Matrix") haben Mitchells Text atomisiert und zu einem drei Stunden langen Erzählfluss neu zusammengesetzt. Sechs Handlungen, über den Globus verstreut, spielen 1849, 1936, 1973, 2012, im 22. Jahrhundert und einer noch ferneren, postapokalyptischen Zukunft.

Es geht, viel stärker als im Buch, um Reinkarnation, dass letztlich alles mit jedem verbunden ist und dass sich eine gute Seele im Laufe der Jahrhunderte vom Stinker zum Weisen hocharbeiten kann. Der Buchtitel bezieht sich auf das ebenso wunderschöne wie unbekannte Meisterwerk eines Komponisten, den es nur in Mitchells Buchstaben-Universum gibt. Tom Hanks, Halle Berry, Hugh Grant und Susan Sarandon mutieren in etliche Rollen und wechseln dabei auch schon mal das Geschlecht. Der Film ist als Genre-Melange schlichtweg größenwahnsinnig und gerade deswegen faszinierend gelungen. In Mitchells Roman sind die sechs Erzählebenen wie bei einer Matrioschka-Puppe gestaffelt: 1-2-3-4-5-6-5-4-3-2-1; im Film kommt es zur fantastischen Fusion, die sogar die Erde verlässt. Ihn nur einmal zu sehen ist wohl einmal zu wenig.

Aber Mitchell will jetzt lieber über anderes reden. Es gibt so viel anderes in seiner Welt, in seiner Fantasie, vor seinen Augen. Wandern beispielsweise. Mag er sehr. Vor Hamburg war er in Zürich. Das Licht dort! Die Farben! "Weiß auf Grau, das ist in der Natur eine wunderbare Kombination, oder?" Abschweifen ist bei ihm Programm, früher oder später kommt man ja so womöglich auch ans gewünschte Ziel.

Wie jeder gute Schriftsteller hat Mitchell sein Notizbuch immer dabei. Mit Aufklebern seiner Tochter dekoriert. Ideen-Rohlinge seien dort drin, berichtet Mitchell, aber auch "viele gute Namen", ein Vorrat, falls er mal welche benötigt. Blättert, versonnen, fast liebevoll aber auch. "Arthur ... Hockaday ... Ein Charakter wird ohne den richtigen Namen nicht lebendig." Schon Shakespeare hat das gewusst. Neben den Namenslisten stehen Vokabeln auf den eng beschriebenen Seiten. Manchmal erfindet Mitchell neue, "um sich den Spaß zu gönnen, ob meine Übersetzer das merken". Womit schon auch klar ist, dass Mitchell es weder sich noch seinen Lesern immer nur einfach machen möchte. "Ich schreibe vielschichtige Geschichten nicht um ihrer selbst willen. Das ist, was das Buch möchte. Viel lieber würde ich über einen skandinavischen Detektiv schreiben oder über einen Zaubererschüler, wenn ich das nur könnte."

Mittlerweile ist Mitchell ausreichend in Plauderlaune, um ihm eine erste konkrete Frage unterzujubeln. Wie war das denn so, als Hollywood wegen der Filmrechte für "Cloud Atlas" anrief? Anders. Es war eben kein Anruf, sondern eine Mail, und sie kam auch nicht aus Kalifornien, sondern von seinem Agenten. "Es gibt da ein Angebot", schrieb der. "Er ruft nur an, wenn es wirklich wichtig ist", schiebt Mitchell als ganz leicht kokette Pointe hinterher.

Seine Reaktion damals war ein "vorsichtiges Ja". Von den drei "Matrix"-Filmen, die als futuristische Gralserzählung von Mal zu Mal messianischer daherkamen, kannte Mitchell nur den ersten. "Ich werde nicht leugnen, dass in der Mail auch eine nette Zahl erwähnt wurde. Es war eine ziemlich einfache Entscheidung." Die Aufregung danach bewegte sich bei ihm dennoch in überschaubaren Grenzen. "Für die meisten meiner Bücher wurden Optionen ausgehandelt. Man denkt nicht sofort daran, wie der Film aussehen könnte, weil es in den meisten Fällen keinen Film geben wird."

Ein Mitspracherecht bei der Verfilmung seines Buchs, das er angesichts der vielen Facetten für sein unverfilmbarstes hielt, hatte Mitchell nicht. "Das ist ja, was man verkauft. Der Normalzustand ist: Da habt ihr, nehmt das Ganze und den Namen und macht damit, was ihr wollt."

Eine frühe Drehbuchfassung hatte Mitchell gesehen, er fand sie "beeindruckend". Dann gab es ein kurzes Telefonat mit Tom Tykwer, der gerade irgendwo in irgendeinem Taxi saß. Später kamen die Filmmenschen für Gespräche nach Irland eingeflogen. "Vielleicht war das naiv, aber ich war nie besorgt. Sie entsprachen überhaupt nicht meinen Hollywood-Stereotypen." Das Ergebnis, findet er, kann sich sehen lassen, weil es auf sehr eigenen Füßen steht. "Der Film funktioniert als Film so gut wie das Buch als Buch. Der Film ist nicht weniger wert. Und ein Buch mit einem Film zu vergleichen, das ist noch nicht mal wie Äpfel und Birnen, das ist wie ein Kilo Zucker und halb sieben am Mittwoch."

Zwischendurch verschlägt es uns, passend zum Film, auch zu ganz anderen Themen. Unter anderem auf die Einkommenssteuer in Irland. Bis die Wirtschaftskrise das Land in die Knie zwang, waren Einkünfte aus Literatur, Film, Musik - und Pferderennen - davon befreit. "2008 sah man sah sich diese Steuer-Idee an, lachte, und danach war sie weg", erinnert sich Mitchell an diese für Irland sympathisch typische Sonderbehandlung. "Es tut zwar etwas weh, Steuern zu zahlen. Aber es ist fair, und es fühlt sich richtig an."

Inzwischen hat Mitchell natürlich auch die Endfassung von "Cloud Atlas" gesehen. Internet-Foren berichten Tage nach unserem Gespräch, er habe einen winzigen Auftritt: In zwei Szenen in der "Blade Runner"-Version von Seoul begegnet er als stummer Statist seiner utopischen Heiligengestalt Somni. Bei der Frage, ob der Film so ist, wie er vor seinem inneren Auge abgelaufen sein mag, kommt Mitchells Fantasie ein weiteres Mal auf Touren. "Das Lustige ist, ich weiß nicht mehr, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Denken Sie mal an eine Stadt, in der Sie noch nie waren. Anchorage, Alaska. Sie haben gewisse Vorstellungen: Straßen, ein Hafen, ähnlich wie Seattle, aber kleiner und kälter, rostige Tanks. Aber wenn man dorthin reist, ist diese Einbildung sofort weg. Genauso war es für mich auch mit diesem Film. Ich weiß es nicht mehr."

Bücher "Cloud Atlas - Wolkenatlas" (Rowohlt, 672 Seiten)/"Die tausend Herbste des Jacob de Zoet" (Rowohlt, 720 Seiten)

"Cloud Atlas" läuft am Mittwoch in den Kinos an