Welche Titel stehen in einer Gefängnisbücherei? Was lesen Häftlinge am liebsten? Stephen King zum Beispiel. Ein Besuch in der JVA Fuhlsbüttel.

Hamburg. Der Raum, in dem die Dichter sind, ist groß und freundlich. In 14 Schritten hat man ihn durchmessen, hat die hellgelben Wände bemerkt und die hohen weißen Decken und ist angekommen bei den Fenstern, die auf den Hof zeigen und dann auf das Ende der Welt. Das sind die Mauern der JVA Fuhlsbüttel.

Harry Bachmann* ist gut aufgehoben in dieser Welt, das möchte man meinen, wenn man ihm an diesem Morgen durch die Gänge der Gefängnisbücherei folgt, ein älterer Herr mit dünnem Haar, der wahrscheinlich nirgendwo auffallen würde, vielleicht ist das durch die Haft gekommen, vielleicht sind es einfach die Gene. Er könnte gut im Getränkemarkt arbeiten und leere Kisten annehmen, und zwei Minuten später hätte man ihn vergessen. Seine Schritte sind schnell, es geht vorbei an Fontane, Hesse, Kleist, aber das ist nicht sein Ziel, "hier, Stephen King", sagt Harry Bachmann, er hat gefunden, wonach er sucht. "Das wird eigentlich am meisten gelesen", seine Hand wischt die Buchrücken entlang, "sieht man ja auch, da haben wir unheimlich viel von, und einige sind sicher auch gerade verliehen."

Man kann gar nicht sagen, was man als Antwort auf die Frage erwartet hätte: Welche Bücher lesen Menschen im Gefängnis? Vielleicht "Die Meuterei auf der Bounty", vielleicht das Grundgesetz - oder die Bibel? Nein, sagt Harry Bachmann, eher die Strafvollzugsordnung, eine Anleitung zum Marathontraining oder die Biografie von Bushido. Harry Bachmann weiß das besser als jeder andere, und er wüsste wahrscheinlich auch, wer zuletzt Stephen Kings "Es" gelesen hat, aber er würde es nicht sagen, denn hier ist jeder, der ein Buch ausleiht, ein "Insasse". "In den ganzen Jahren, wo ich hier bin, hat noch kein Insasse ein Buch zerfleddert", sagt er zum Beispiel, oder: "Einer der russischen Insassen, der liest so viel, da kommen wir gar nicht hinterher."

Harry Bachmann saß schon als Jugendlicher im Gefängnis und seitdem immer wieder, heute ist er Rentner und in ein paar Monaten wieder frei. Zeit seines Lebens hat er gearbeitet. Bis vor vier Jahren war er in der Anstaltsschlosserei, dann wurde er Rentner. "Und da hatte ich mir geschworen, dass dann Schluss ist mit dem Schmutz und dem Lärm", sagt Harry Bachmann. "Und so kam es, dass ich dann hier angefangen habe. Ich habe es nie bereut."

Rund 3000 Bücher stehen in der Gefängnisbücherei der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel, mal etwas weniger, mal etwas mehr, das entscheiden die Hamburger Bücherhallen. Zusammen mit der Justizbehörde sind sie für die kleine Bibliothek zuständig. 14 mal 20 Schritte misst der Raum, und wenn Harry Bachmann abends in seine Zelle zurückgekehrt ist, dann hat er ein Fünftel dieser Fläche.

In diesem Fünftel rücken die Mauern sehr nah. Viele blenden sie aus, indem sie abends den Fernseher einschalten, den DVD-Spieler oder das Radio. Und auch wenn deshalb im Gefängnis (und nicht nur da) weniger gelesen wird als früher, so wird es trotzdem immer Bücher geben. In Fuhlsbüttel gibt es sie auf Deutsch, Türkisch, Russisch oder Persisch. Jeder Titel ist in einem Katalog verzeichnet, aus dem die Insassen wählen können, sie füllen dann einen Zettel aus und schmeißen ihn in eine Art Briefkasten vor der Bücherei. Betreten darf die Räume niemand außer den Beamten, Herrn Bachmann und einem zweiten Mitarbeiter, der sich die Stelle des "Bücherkallis" (Bücherkalfaktors) mit Bachmann teilt.

Luis Kalov hat heute eine Sondergenehmigung, es geht die Tür auf, er wird hereingeführt. "Mein Name ist Luis Kalov. Ich habe einen Mord begangen." Er bittet darum, dass die Hintergründe nicht in der Zeitung stehen, irgendwann wird er sich ein neues Leben aufbauen, und die Organisation, für die er getötet hat, könnte ihn überall finden. Luis Kalov ist vielleicht Mitte 30, vielleicht Anfang 40, seit zwölf Jahren ist er hier, Deutschland kennt er nur aus dem Gefängnis.

"Wenn ich es schaffe, dann lese ich abends zwei, drei Stunden am Stück", sagt er, sein Deutsch hat einen leichten Akzent. Die Sprache hat er sich selbst beigebracht, mit Romanen und Wörterbüchern, in seinem vierten Jahr hat er Victor Hugos "Les Misérables" gelesen, ein Klassiker auf 1500 Seiten. Aber was für ein Buch das war. Ganz kurz fasst Kalov die Geschichte zusammen, erzählt sie in seinen Worten, von dem Mann, der ein Sträfling war und Unterschlupf findet bei einem Pastor, der ihn auch dann noch schützt, als der Schützling sich als Dieb erweist. "Er hat dem Pastor das gesamte Silber gestohlen, aber was macht der, als die Polizei den Täter aufgreift? Er sagt: Ich habe ihm das geschenkt. Und der ehemalige Sträfling beschließt daraufhin, ein anderer Mensch zu werden. Ich kann nicht sagen, wie sehr mich das beeindruckt hat." Das ist eine schöne Geschichte, aber natürlich muss man sich keine Illusionen machen und sich die JVA Fuhlsbüttel als Insel der Gescheiterten vorstellen, die ihre Tat bereuen und nun bessere Menschen werden wollen, die dafür Bücher lesen und Malkurse besuchen. Im August befand eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, dass in deutschen Gefängnissen nicht der Wille zur Besserung herrscht, sondern das Faustrecht. Die Wissenschaftler befragten 6400 Häftlinge in 33 Gefängnissen, jeder vierte berichtete, allein in den Wochen vor der Befragung als Opfer oder Zeuge Vorfälle erlebt zu haben, die er als "sehr schlimm" empfunden hat: körperliche und sexuelle Übergriffe, Schläge im Sportraum, Vergewaltigungen in der Gemeinschaftsdusche. Und dazwischen dann Häftlinge, die lesen? Ja doch, die gibt es. Aber natürlich sind sie eine Ausnahme.

Luis Kalov sagt, dass er das System Gefängnis in den zwölf Jahren ganz gut durchdrungen hat, gedanklich. Und dass er manchmal mit der Art der Bestrafung nicht zurechtkomme. "Wenn Insassen hier in Fuhlsbüttel gegen die Regeln verstoßen, dann schickt man diese Menschen auf die Isolationsstation. Ich frage mich, warum man diesen Insassen nicht einfach sagt, dass sie dort ein Buch lesen und eine kurze Zusammenfassung schreiben sollen? Ich habe das mal einem Abteilungsleiter vorgeschlagen, aber nie eine Antwort bekommen." Luis Kalov macht eine Pause. "Stellen Sie sich das mal vor, es gibt so viele Leute, die in ihrem Leben noch kein einziges Buch gelesen haben. Aber das hier wäre doch ein Anfang, oder?"

Harry Bachmann ist ein Mensch, der im Gefängnis immer ganz gut zurechtgekommen ist. Vielleicht, weil er hier drinnen immer einer der Guten war, ein angesehener Mann. Was er dann als Mensch noch zählte, als er zurück in die Welt geschickt wurde, das kann man sich ziemlich gut vorstellen. Man weiß ja, wie die Gesellschaft auf Menschen reagiert, die den Großteil ihres Lebens in Haft verbracht haben.

Wenn Harry Bachmann erzählt, wie er zum ersten Mal ins Gefängnis kam, dann ist das gleichzeitig die Geschichte eines Mannes, der ganz spät die Liebe zum Lesen entdeckte. "Ich bin ja 1943 geboren, während des Krieges", sagt er, "und nach dem Krieg war bei uns das Geld nicht da für Bücher. Auch in der Schule nicht, die anderen haben Karl May gelesen, ich gar nichts. Aber als ich dann zum ersten Mal im Jugendknast war, mit 18, da kam das dann zwangsläufig. Es gab ja kein Radio auf der Zelle, kein Fernsehen, 1962 gab es so was noch nicht. Nur Bücher lesen durfte man, zwei Bücher pro Woche. Da habe ich angefangen zu lesen."

Stephen King, sagt Bachmann lächelnd, gab es da noch nicht. Aber Hans Dominik. Ein deutscher Elektroingenieur und Schriftsteller, der Anfang des vorigen Jahrhunderts Science-Fiction-Bücher schrieb, zu einer Zeit, als es den Begriff noch gar nicht gab, "aber das war es für mich", sagt Harry Bachmann und schaut einen unverwandt an. "Von Hans Dominik habe ich dann alles gelesen. Als gelernter Maschinenschlosser hatte ich selbst so viel mit Technik zu tun, dass hat mich einfach nicht mehr losgelassen."

Es ist schwierig, sich Harry Bachmann als jungen Erwachsenen vorzustellen. Aber er selbst, das sieht man jetzt in seinem Blick, hat das noch nicht vergessen: Wie das damals war, als er jung war und noch nicht einer der "Insassen".

Vielleicht gelingt es ihm ja dieses Mal, den Sprung in die Freiheit zu meistern, in wenigen Monaten wird Harry Bachmann Fuhlsbüttel verlassen - nach sieben Jahren Haft wegen eines Bankraubs.

"Ich nicht" von Joachim Fest heißt sein neues Lieblingsbuch.

Auf Wunsch unserer Gesprächspartner in der JVA Fuhlsbüttel haben wir ihre Namen verändert und auf Fotos von ihnen verzichtet. Die Bücherregale in ihren Zellen dagegen haben wir mit ausdrücklicher Genehmigung der Insassen fotografiert.