Hans Werner Henze, einer wichtigsten deutschen Nachkriegs-Komponisten und ein Klassiker der Moderne, starb im Alter von 86 Jahren.

Hamburg. Komponieren sei sein Beitrag zur Verschönerung der Welt, davon war Hans Werner Henze zeitlebens überzeugt, und davon, dass diese Arbeit auch politische Bedeutung habe.

Wie politisch seine Musik auch falsch verstanden werden kann, erlebte Henze am 9. Dezember 1968 in Hamburg, in der Halle B von Planten un Blomen, wo sein "Floß der Medusa" spektakulär auf Grund lief. Er hatte diese Auftragsarbeit für den NDR dem ein Jahr zuvor in Bolivien hingerichteten Revolutionär Che Guevara gewidmet, kurz vor der Premiere veröffentlichte der "Spiegel" eine perfide Anti-Henze-Polemik über den auch kommerziell erfolgreichen Komponisten: "Zwei Seelen wohnen in seiner Brust - hier Apo, da Lukullus." Studentenführer Rudi Dutschke und Komponistenkollege Stockhausen ergriffen per Leserbrief Partei für Henze. So ziemlich alle Nerven lagen blank.

Vor der Premiere demonstrierten Studenten im Saal unter anderem für die "Enteignung der Kulturindustrie", der aus West-Berlin angereiste Rias-Chor weigerte sich zu singen, weil am Dirigentenpult eine rote Fahne und ein Che-Poster hingen. Henze wollte, dass die Fahne blieb, und feuerte die "Ho, Ho, Ho Chi Minh!"-Rufer an. Die Sänger verließen die Bühne. Das Chaos endete mit Handgreiflichkeiten und sieben Festnahmen durch überreagierende Polizisten. Henze war durch einen Hinterausgang geflohen. Erst 2001 holte der damalige Hamburger Generalmusikdirektor Ingo Metzmacher die ausgefallene Premiere nach, eine späte Genugtuung für den Komponisten und sein Stück, das im zweiten Anlauf unwidersprochen bejubelt wurde. "Dass ich recht hatte, wusste ich damals schon", kommentierte Henze diese Wiedergutmachung im Abendblatt.

Henze stammt aus der ostwestfälischen Provinz, er war der homosexuelle und linkshändige Sohn eines strammen Nazis, er war der schöngeistige Sohn eines kleingeistigen Dorfschullehrers. Mehr Außenseiter ging dort kaum.

Luxus und links, in Castros Kuba zu leben, in Italien KP-Mitglied zu sein und seine "Bassariden"-Oper als Auftragsarbeit für etwas so Bourgeoises wie die Salzburger Festspiele zu liefern - das alles ging für ihn nach seiner traumatischen Jugend gut zusammen. Denn er hatte sich seine Erfolge ebenso hart erarbeitet wie die Rückschläge und genoss die Zeit dazwischen seit vielen Jahren 20 Kilometer südlich von Rom, auf einem Landsitz, den er sich vom Honorar für die Oper "Der junge Lord" gekauft hatte.

Henze war mit Leib und vor allem mit Seele Italiener. 1953 floh er zum ersten Mal aus der Adenauer-Republik ins Sehnsuchtsland der deutschen Klassiker, dorthin, wo die Zitronen blühen. Ein Ästhet wie aus einem Thomas-Mann-Roman herausflaniert, Herzensbildungsbürger und Romantiker, Gerechtigkeitsfanatiker mit vielen Wenns und vielen Abers. Nach dem Berliner Attentat auf Dutschke kümmerte sich Henze um ihn.

Ideologische Widersprüche im Handeln und Tun hielt Henze nicht nur mit zäher Ausdauer aus, er zog sie geradezu an. Schwieriger konnte es kaum kommen für jemanden, der im verkniffenen, engstirnigen Nachkriegsdeutschland seine Träume von schöneren Klangwelten verwirklichen wollte. Er suchte den "vollen, wilden Wohlklang".

Als junges Talent hatte er das Doktrinäre der Avantgarde abgelehnt, dafür eine Tracht intellektuell verpackter Prügel erhalten - und zur Beschleunigung der Wundheilung in seinem eigenen Sinne weitergemacht. "Der Kummer über zerfetzte Gefühle produziert sehr brauchbare Noten", schrieb er, nachdem Boulez, Nono und Stockhausen 1957 nach wenigen Takten den Saal verließen, als bei den Donaueschinger Musiktagen ein Henze aufgeführt wurde. Nach den ersten neun Sinfonien, an jener Stelle, bei der viele abergläubig verstummten, machte sich Henze unverdrossen an eine Zehnte. "Todesangst" war schon vor mehr als einem Jahrzehnt seine westfälisch-lakonische Antwort auf die Frage, warum er sich ein Stück nach dem anderen abringt.

Henze war ungemein fleißig, von preußischer Disziplin angetrieben. Mehr als 20 Opern (darunter der "Prinz von Homburg" nach dem Libretto seiner Herzensfreundin Ingeborg Bachmann, der 1960 von Rolf Liebermann zur Uraufführung nach Hamburg geholt wurde) dokumentieren diese Begeisterung für das Musik-Theater. Dazu kamen Ballettmusiken, Orchesterwerke, Bühnen- und Kammermusik, Vokales und Instrumentalkonzerte. In Montepulciano gründete er ein Festival, bei dem Komponisten mit Kindern arbeiteten und oft wohl nicht klar war, wer dabei von wem mehr über Musik lernte.

Im Laufe der Jahrzehnte ist seine barock klangsinnliche Musik immer solitärer geworden. Das Spätwerk Henzes, der mittlerweile eine umfassende Popularität in Opern-Spielplänen und auf den Konzertbühnen genießen konnte, war von der Freude an klassischer Schönheit geprägt. Zeitlos, märchenhaft durften seine Klangzaubereien nun sein. Zeitgenössisch und zeitgemäß, das waren Kategorien, die Henze nicht interessierten. Das Aufregen überließ er Jüngeren. Darin glich er dem greisen Richard Strauss, der seine illysisch entrückten Schwanengesänge nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in eine zertrümmerte Gegenwart entließ, die ganz andere Probleme hatte.

Der emeritierte Klassenkämpfer Henze spielte verträumt mit mythologischen Gestalten oder orientalischen Märchenfiguren, wie sie in "L'Upupa" auftauchen, jener Arabesken-Oper über einen goldenen Wiedehopf, deren deutsche Erstaufführung 2006 in Hamburg Simone Young dirigierte. "Ich stelle mich als Vertreter des Optimismus zur Verfügung", ließ er über die hinteren Seiten seines riesigen Werkkatalogs wissen. Aus dem bewunderten "Monstrum" (Ingeborg Bachmann) war eine buddhaeske Gestalt geworden; "der Alte" - so nannte er sich gern selbstironisch weit vor dem vierten Whisky - wurde mit Hochachtung begrüßt, wo immer er, von Parkinson gezeichnet, noch auftauchte, um sich für eines seiner Werke und letztlich das bloße Hans-Werner-Henze-Sein feiern zu lassen. Er hielt Hof, wehmütig lächelnd. Vor wenigen Tagen erst ist seine "Ouvertüre zu einem Theater" bei der Feier zum 100. Geburtstag der Deutschen Oper in Berlin uraufgeführt worden. Sie wurde sein Schlussakkord. Am Sonnabend ist der größte Klassiker der deutschen Moderne, 86 Jahre alt, in Dresden gestorben.