Alice Schmids wunderbare Dokumentation “Die Kinder vom Napf“ erzählt vom Alltag in einem kleinen Schweizer Ort

Als Großstädter, der in der U-Bahn zwischen einer Horde hibbeliger heimkehrender Schüler sitzt oder gestresste Eltern, die ihren Nachwuchs mit dem Auto zum Unterricht kutschieren, klagen hört, kann man sich das gar nicht vorstellen: Da stapfen mehrere Kinder frühmorgens, es ist noch dunkel, im Lichtkegel einer Taschenlampe schnaufend durch den Schnee, bis es dann per Seilbahn und Bus weitergeht. Zehn Kilometer hin, zehn Kilometer zurück, Tag für Tag.

Wir befinden uns am Napf, einem Berg mitten in der Schweiz, zwischen den Kantonen Bern und Luzern, der kleine Ort, wo die Kinder zur Schule gehen, heißt Romoos. Hier scheint der Unterricht noch Spaß zu machen: kein Stress, kein Druck, keine Ausgrenzung. Auch die Tochter von Kosovo-Flüchtlingen gehört dazu, und wenn ein Mädchen nicht so helle ist wie die anderen, käme niemand auf die Idee, es zu ärgern. Nachmittags geht es dann zurück, auf die Bauernhöfe, die verstreut am Berg liegen. Hier hilft jedes Kind wie selbstverständlich mit, beim Viehtrieb, beim Flicken des Zauns, bei der Ernte.

Alice Schmid, die schon eine Dokumentation über Kindersoldaten in Liberia gedreht hat, schildert in ihrem neuen Film, über 365 Tage hin aufgenommen, fast so etwas wie ein Paradies, das wie aus der Zeit genommen zu sein scheint - wenn es da nicht den Wolf gäbe, der bereits 27 Schafe gerissen hat, oder den Habicht, der die Hühner holt. Natürlich bleibt auch Zeit zum Spielen, wir sehen - ganz ohne Verklärung - glückliche Kinder auf Sommerwiesen und beim Volkstanz. Der Mensch lebt hier noch im Einklang mit der Natur, die den Arbeitsalltag bestimmt, fast entsteht der Eindruck einer heilen Welt, in der Rücksicht und Respekt nicht eingeklagt werden müssen, sondern selbstverständlich sind. Doch die Außenwelt lockt: Ein Bub trägt ein Spider-Man-T-Shirt, ein anderer würde gern Red Bull trinken. Und über allem schwebt der Geist von Bernard Wicki, einem gebürtigen Romooser, der es immerhin bis nach Hollywood geschafft hat. Und so ist auch der Wunsch eines Jungen zu erklären: Romoos möge doch bitte so berühmt sein wie die Filmfabrik.

Bewertung: überragend

"Die Kinder vom Napf" Schweiz 2011, 89 Min., o. A., R: Alice Schmid, mit Celine, Erich, Isabelle, Julia, Linus, Marco, Michael, Ueli, täglich außer Mo im Abaton; Infos im Internet unter: www.mfa-film.de