Alice Buddeberg setzt den “Ödipus“ am Schauspielhaus sehr gelungen in Szene

Hamburg. Der Abgrund ist immer nur einen Schritt entfernt. Kein Vor, kein Zurück, wohin sich Ödipus auch wendet, es wartet kein fester Boden unter seinen nackten Füßen. Schmale Stege und vereinzelte Plattformen hat Bühnenbildnerin Cora Saller für diesen "Ödipus" nach Sophokles (übersetzt von Walter Jens) auf das ohnehin stark verkleinerte Schauspielhaus-Spielfeld gesetzt.

Eine im Wortsinn ausweglose Situation für die Titelfigur, während die anderen ebenso sinnbildlich aus der Unterwelt, aus dem Vergessen, ans Licht klettern müssen, um ihren Teil zum Entsetzen beizutragen. Kaum Fundament also hat dieser unrettbare Ödipus, den Markus John auf bemerkenswert kleiner Fläche ebenso bemerkenswert raumgreifend verkörpert, und als wäre das noch nicht genug, treibt Regisseurin Alice Buddeberg seine eigentliche Beeinträchtigung in ihrer Inszenierung ebenfalls auf die Spitze: Markus John spielt die gesamte Vorstellung, annähernd zwei Stunden, vollkommen blind.

Die Regisseurin stellt den Begriff des Schicksals infrage

Sein Ödipus, der sich - als er erfährt, dass er seinen leiblichen Vater tötete und unwissentlich mit seiner eigenen Mutter Kinder zeugte - selbst blendet (unter Einsatz von spritzendem Theaterblut), trägt als blinder alter Mann, als der er in die Inszenierung startet, eine Art hautfarbene Binde. Für die Rückblenden nimmt Markus John diese nicht etwa ab, sondern klebt stattdessen weit aufgerissene Augen darauf. Sie blinzeln nie und sehen dennoch gar nichts. Was auch für den Schauspieler gilt - eine extreme Herausforderung für ihn, ein starkes Bild für den Zuschauer.

Als Ödipus kommt er am Ende eines leiderfüllten Lebens in der selbst gewählten Verbannung an. Ein abgerissener Alter in fleckiger Hose und zu kleinem Seidenblouson, der in Kolonos um Asyl bittet, um in Frieden sterben zu können. "Que Séra, séra ...", singt er verbittert, "the future's not ours to see ...", was immer sein soll, wird sein. Schicksal. Eben das stellt Alice Buddeberg in ihrem "Ödipus" infrage. Wer hat Schuld an Verlauf eines Lebens, kann man ändern, was doch vorherbestimmt scheint?

Eine Parabel auf die Politik der Gegenwart versucht die junge Regisseurin erst gar nicht, eine gute Entscheidung. Lieber bleibt sie eng an der eigentlichen Geschichte, erzählt sie von hinten nach vorn und wieder retour wie einen Kriminalfall, in dem Ödipus sich selbst und seiner grausamen Familientragödie auf die Spur kommt.

Die lächerlich satten Einwohner von Kolonos, die Martina Küster in wulstige Niki-de-Saint-Phalle-Anzüge gesteckt hat, wollen von Ödipus dessen fluchbeladene Lebensgeschichte aufgearbeitet wissen, bevor sie ihm einen Sterbensort gewähren. "Das Volk wird entscheiden, du musst ihm vertrauen", spricht der Chor, während jeder Einzelne die Hände vor dem Oberkörper zum Merkelschen Dreieck zusammenführt. Einer der wenigen betont (und eher unnötig) auf Pointe schielenden Momente, die Buddeberg ihrer Inszenierung verpasst.

Sie konzentriert sich lieber auf das Drama der Begegnungen, lässt den Seher Teiresias von einem kleinen Jungen spielen (begabt und unaufgeregt: Joaquin Krempel) und Kreon (Janning Kahnert) als sich windenden Getreuen auftreten, der überzeugend darlegt, warum es nur von Vorteil sein kann, gerade keine Führungsposition anzustreben. Wer will schon tatsächlich Verantwortung tragen? Der gefallene König Ödipus und seine einander in ihrem Machtstreben hasserfüllt bekämpfenden Söhne sind die besten schlechten Beispiele.

Wer je an seinem Glauben zweifelte, den wird das Stück nicht unberührt lassen

Das Ensemble spielt ausnahmslos auf hohem Niveau, eine wirklich einprägsame Stimme hat Julia Riedler als Ödipus' Tochter Antigone, Irene Kugler überzeugt als seine Frau und Mutter Iokaste, Juliane Koren verleiht ihrem alten Hirten, dessen Akt der Gnade das Unheil erst ermöglichte, lakonischen Witz. Vor allem aber ist Markus John der Mann der Stunde, er ist das Kraftzentrum dieses formalistischen, auf die Sprache konzentrierten und vom Publikum gefeierten Abends.

Die Inszenierung ist nicht nur unter den erschwerten Umständen am Deutschen Schauspielhaus (die Interimsintendanz, die letzte Phase vor dem großen Neuanfang, jetzt auch noch der Bühnenumbau) wirklich beachtlich gelungen.

Wer je an seinem Glauben oder gar am Leben selbst (ver)zweifelte, den wird sie jedenfalls kaum unberührt lassen: "Wenn die Antwort lautet: der Mensch - was ist denn dann die Frage?!"

"Ödipus" Deutsches Schauspielhaus (U/S Hauptbahnhof), Kirchenallee, nächste Vorstellungen am 23. und 27.10. und am 10. und 15.11., jeweils um 20 Uhr, Karten unter T. 040/24 87 13; Internet: www.schauspielhaus.de