Der chinesische Friedenspreisträger Liao Yiwu wird in seiner Frankfurter Dankesrede deutlich. Er kritisiert auch den Westen für seine Haltung

Frankfurt/Hamburg. Müssen Chinas Zensoren nun Sonderschichten einlegen? Oder erledigen das Internetfilter selbsttätig - zu unterdrücken, was der im deutschen Exil lebende Schriftsteller Liao Yiwu gestern bei seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche sagte?

Als sich der chinesische Autor Mo Yan, gerade als neuer Literaturnobelpreisträger verkündet, am Freitag während einer Pressekonferenz in China für Liu Xiaobo, den immer noch inhaftierten Bürgerrechtler und Friedensnobelpreisträger von 2010, einsetzte, wurde das jedenfalls eilig aus dem Nachrichtenstrom herausgefischt - nationaler Stolz auf den Preis hin, internationaler Gesichtsverlust her.

Bei Liao Yiwu gibt es deutlich mehr zu holen. Der Autor, kahlköpfig als Erinnerung an seine Höllenzeit in chinesischen Gefängnissen, hat sich kompromisslos der Wahrheit verschrieben. Vier Jahre saß er für ein Gedicht, in dem er - " wie ein Seher", so Laudatorin Felicitas von Lovenberg - am Vorabend der Erstürmung des Tiananmen-Platzes am 4. Juni 1989 durch die "Volksbefreiungsarmee" das Massaker an der Demokratiebewegung vorausahnte. Vier Jahre Knast in einem Niemandsland der Menschenrechte, in denen ihm sein Untergrund-Literatentum ausgetrieben, ihm seine "romantische Dichterhaut abgezogen" wurde, wie er selbst schreibt. Seither ist Liao unerschrockener, schmerzhaft präziser Chronist. Einer, der am unteren Rand der Gesellschaft notiert, was die Machthaber verdrängen und zertreten wollen. Das hat ihn sein Ansehen, seine Familie und zuletzt auch noch seine Heimat gekostet.

Bei S. Fischer erschien eben sein neues Buch, "Die Kugel und das Opium". Es gibt den überlebenden Tiananmen-Opfern eine Stimme. Auf mehr als 90 Seiten ist es auch Epitaph für die bisher bekannten Todesopfer - bekannt sind indes nur etwa 200 von geschätzt 2500 bis 3000 Toten.

Liao zeichnet - dem staatlichen Tabu zum Trotz - das Tiananmen-Trauma nach, durch das in einer Nacht alle Hoffnung auf Demokratie, Beteiligung des Volkes, auf Achtung der Menschenwürde zugrunde ging. Ein grausames Buch, ein erschütterndes Buch, ein notwendiges Buch. Denn längst hat sich, sagt er, China darangemacht, in einem gewaltigen Konsumrausch die letzten Erinnerungen daran auszulöschen.

Zurück bleiben die, die oft nur aus der spontanen Gewissheit, das Richtige zu tun, die Studentenproteste unterstützt hatten. Liao beschreibt das blinde Wüten der Staatsmacht gegen jeden, der damals auf der Straße war - Kinder, Frauen, Studenten, Arbeiter, zufällige Passanten, durch Hinrichtungen ausgelöscht, durch Folterhaft desillusioniert, gebrochen, bis heute gesellschaftlich geächtet. In seiner Rede weist er auf die Millionen Toten der Mao-Herrschaft hin und zählt viele Tabuthemen der "roten Kaiser" auf: die Unterdrückung von Tibetern und Uiguren, der Umgang mit den Opfern des Erdbebens von Sichuan und mit den Kritikern von der Charta 08. Liu Xiaobo muss er da nicht mehr extra nennen.

Der kleine Mann in der einfachen Kleidung des Volkes steht da und prophezeit: "Eine Dynastie, die Kinder tötet und die Wahrheit foltert, hat keinen Bestand." Und: "Dieses Imperium muss auseinanderbrechen." Er sagt das, nur das, auf Deutsch - damit es jeder versteht. Und kritisiert den Westen: "Unter dem Deckmantel des freien Handels machen westliche Konsortien mit den Henkern gemeinsame Sache." Chinas Wertesystem sei längst kollabiert und werde nur noch vom Profitdenken zusammengehalten. "Gleichwohl", schaut er nach vorn, "ist diese üble Fessel des Profits so weitreichend und verschlungen, dass sich die freie Welt der wirtschaftlichen Globalisierung noch ausweglos in ihr verheddern wird."

Am Ende der Feier, zu der auch Bundespräsident Joachim Gauck gekommen war, singt Liao Yiwu sein Lied über die Mütter von Tiananmen, in dem es heißt: "Mein Kind, friert es dich im Jenseits?" Es endet so: "Endlos ist die Welt der Menschen, zartgrün das Gras auf den Gräbern. Mutter, was nutzt dein Klagen?" Tränen, wie früher so oft, hat er dabei nicht mehr in den Augen. Er kämpft weiter.