Billy Talent in der enthemmten Alsterdorfer Sporthalle oder: Warum man ein Konzerterlebnis nicht kopieren kann

Hamburg. "Ich habe mich entschieden", ruft Billy-Talent-Sänger Benjamin Kowalewicz am Donnerstag in der fast ausverkauften Alsterdorfer Sporthalle, "Hamburg ist meine neue Heimat." Man könnte es für eine dieser typischen "Hier Städtenamen einsetzen"-Ansagen halten, aber der Frontkeifer der kanadischen Vorwärtsrocker aus Toronto kann sich auch noch sehr gut an den ersten Auftritt 2003 im Molotow erinnern, an den bis jetzt im Schild über der Eingangstür des Kellerklubs gedacht wird. "Ich liebe eure Stadt, eure Bars, eure Stripklubs".

Eine Botschaft, die 6800 Fans erwidern. Vorne toben die noch nach Pubertätsstoffwechsel müffelnden Jüngeren, hinten singen die Veteranen des ersten von vier Billy-Talent-Konzerten auf dem Hurricane-Festival mit. 2004 war es, nachmittags vor 150 noch nachtmüden Zuschauern. "Lange her", ist der Gedanke beim Blick in den Saal. Schon beim zweiten Lied "Viking Death March" bildet sich der erste Pogokreisel, und der wächst 80 Minuten später bei der dritten Zugabe "Red Flag" zu einem riesigen, fast die Hälfte des Innenraums einnehmenden Mahlstrom, einem alles verschlingenden Strudel aus schwitzenden Körpern an.

"Bitte nehmt Rücksicht aufeinander", mahnen schon die beiden Vorbands Arkells (klasse) aus Hamilton und Anti-Flag (so lala) aus Pittsburgh. Viel nützt der Appell nicht. Beim Gang zum Bierstand nach einer ganzen Kaskade herausgerotzter Billy-Talent-Brocken, nach "This Is How It Goes", "Devil In A Midnight Mass", "This Suffering" und "Line & Sinker" schlurfen einem erschöpfte Rückzügler aus den ersten Reihen entgegen, einer kühlt sich die blutende Nase mit Eiswürfeln. Und doch sieht er glücklich aus.

Auch auf den Rängen ist die Stimmung selbst bei relativ ruhigen Songs wie "Rusted From The Rain" enthemmt. Eine ältere wuchtige Besucherin taumelt immer wieder tanzend von der Treppe in die Stuhlreihen, spielt Fan-Domino und hinterlässt feuchte Schlieren auf Brillen. Ja, sogar der Bediener eines Scheinwerfers am anderen Ende der Sporthalle spielt in acht Metern Höhe Luftgitarre zu "Runnin' Across The Tracks". Auch die vier von Billy Talent hasten durch ihre Tracks. 19 werden es am Ende sein, 19 stadiontaugliche, mit höchstem Einsatz und mörderischer Dynamik präsentierte Fallbeispiele, warum man ein Konzerterlebnis nicht kopieren kann.

Ist Billy Talents Studiosound vor allem auf dem aktuellen vierten Album "Dead Silence" doch sehr luftarm, so nimmt einem die Live-Präsenz der Band schlicht den Atem. Das hat beim Pumakäfig-Gestank in der Sporthalle auch seine Vorteile. Und irgendwie ist doch noch zweite Luft zum Einsteigen im Chor der 6800 bei "Devil On My Shoulder" und "Fallen Leaves". Wir haben uns entschieden: Hamburg ist Billy Talents neue Heimat.