Ein Blick auf das kantige Leben des Nobelpreisträgers, Provokateurs und bedeutendsten deutschen Autors der Gegenwart.

Hamburg/Lübeck. Man könnte diesen Text im Jahr 1959 anfangen lassen, diesem Wendepunkt der deutschsprachigen Literatur. Drei Romane erschienen, die heute zum Kanon gehören: Heinrich Bölls "Billard um halbzehn", Uwe Johnsons "Mutmaßungen über Jakob" und "Die Blechtrommel". Die Lebensgeschichte des trommelnden Oskar Matzerath gilt zu Recht als eines der besten und wichtigsten Bücher der Nachkriegszeit.

Es ist das Opus magnum des Günter Grass. An seinem 85. Geburtstag, den der Lübecker Großschriftsteller, Bildhauer und Nobelpreisträger von 1999 am Dienstag feiert, muss er trotzdem damit leben, dass die Elogen meistens eben nicht mit der Würdigung des grandiosen Fabulierers anfangen. Sondern mit dem Blick auf den ganz späten Grass. Der entdeckte einmal mehr den sorgenvollen Beobachter der Weltläufte in sich und dichtete kritisch in Richtung Israel einen Text unter dem tabubrecherisch gedachten, aber tatsächlich läppisch und trotzig anmutenden Titel "Was gesagt werden muss".

Was Grass zum gesellschaftlichen Eingreifen mit den Mitteln der Literatur bewegte, waren nichts weniger als die Sorge um den Frieden in der Welt und die israelischen Atomwaffen. In Israel sei ein "wachsend nukleares Potenzial verfügbar", schrieb Grass. Der Grass, der jahrzehntelang als moralische Instanz durch die Bundesrepublik und das wiedervereinigte Deutschland wandelte und 2006 in seinem autobiografischen Buch "Beim Häuten der Zwiebel" seine SS-Mitgliedschaft öffentlich machte.

Sagen wir mal so: Günter Grass hat ziemlich eindrucksvoll sein eigenes Denkmal angedätscht. Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler sprach unlängst beiläufig von einer "Entkanonisierung zu Lebzeiten", die sich bei Günter Grass vollziehe. In Israel macht man sich mittlerweile über den Deutschen lustig, der seit Jahrzehnten seine Rolle als unbequemer Querdenker ausfüllt. Anlässlich seines jetzt erschienenen Gedichtbands "Eintagsfliegen", in dem Grass einen israelischen Nukleartechniker preist, der in seiner Heimat als Verräter gilt, übte man sich in Ironie: "Immerhin erfrischend, dass wohl zumindest ein Israeli Gnade vor seinen Augen findet." Und auf dem vor einem Jahr von Grass gestifteten Göttinger Denkmal hinterließen Kritiker eine eindeutige Botschaft: "SS! Günni Halts Maul" - kurz: Der Ruf hat gelitten.

Dabei ist es doch so, dass sich der Schriftsteller Grass und der Unruhestifter Grass durchaus ins Gehege kommen: Die Lebensleistung des 1927 in Danzig geborenen Autors sollte die späte Unbill nicht schmälern. Grass, der bekennende Linke, der seit mehr als vier Jahrzehnten immer wieder für die Sozialdemokraten eintritt, ging nicht nur Konservativen in schöner Regelmäßigkeit auf den Geist. Grass neigte immer schon zur Schwarzseherei (siehe seine Einwände gegen die deutsche Einheit), zur Polemik und zur Provokation - er tat das mit dem Selbstverständnis des politisch engagierten Staatsbürgers. Und er wusste, dass er sich durch seine bisweilen heftige Trommelei angreifbar machte. In einer Poetikvorlesung sagte er einmal: "Die dem Schriftsteller gemäße Distanz droht verloren zu gehen; seine Sprache sieht sich versucht, von der Hand in den Mund zu leben; die Enge jeweils gegenwärtiger Verhältnisse kann auch ihn und seine auf Freilauf trainierte Vorstellungskraft einengen, er läuft Gefahr, in Kurzatmigkeit zu geraten."

In epischer Hinsicht hatte Grass einen langen Atem. Seine Danziger Trilogie ("Die Blechtrommel", "Katz und Maus", "Hundejahre") ist lesenswerter als das allermeiste, was heute erscheint. Der wollüstige und erfindungsreiche Camus-Leser Grass formte, ausgehend von seiner Heimatstadt Danzig, die deutsche Geschichte des Nazismus und des Wiederaufrappelns nach dem Zivilisationsbruch zu einem bleibenden Stück Literatur. Und auch danach gelang ihm noch manches: Den "Butt" (erschienen 1977), der bei Grass sprechen kann und das Geschlechterverhältnis austarierte, mochten die Feministinnen nicht. Ein guter Roman ist das Buch aber doch, und es hat den schönsten ersten Satz überhaupt, er wurde tatsächlich in einem Wettbewerb ermittelt und in den Olymp der Romananfänge aufgenommen: "Ilsebill salzte nach."

Der im Nobelpreis-Jahr veröffentlichte Kurzgeschichten-Band "Mein Jahrhundert" zeigte Grass noch einmal auf der Höhe seiner Erzählkunst. Mehr als sein Spätwerk, das mit seinem erhabenen Gestus ("Grimms Wörter") bisweilen auch nervte, blieb allerdings der Skandal um seinen Wenderoman "Ein weites Feld" von 1995 in Erinnerung, als die Literatur gefühlt ein letztes Mal fett die Backen aufblies: Der Frankfurter Kritiker-Papst Marcel Reich-Ranicki zerriss (in einer Fotomontage) das Grass-Buch auf dem Titel des "Spiegels". (Eine Kränkung, die Grass Reich-Ranicki bis heute nachträgt.)

Ja, es gab mal eine Zeit, in der der Literaturbetrieb nicht nur im intimen Kreis Dienst tat, sondern Tag der offenen Tür hatte. Eine Zeit, in der ein neues Buch von Walser, Böll, Lenz oder Grass ein Ereignis war. Böll ist schon lange tot, Walser unverändert produktiv, aber in den Liebeshändeln des Alters verstrickt ("Das dreizehnte Kapitel"). Lenz erinnert sich in seinem neuen Buch ("Amerikanisches Tagebuch 1962") an eine lange zurückliegende Episode seines Lebens. Bleibt also Grass. Der ist immer noch so vollgesogen mit Gegenwart, so verbunden mit dem Geschehen auf der Weltbühne, als befände er sich in der Mitte der öffentlichen Arena.

Seit 1972 lebt er in Schleswig-Holstein, zuerst bei, mittlerweile, seit 1995, in Lübeck. Grass, der einzige deutsche Autor mit Weltgeltung, ist unverändert sendungsbewusst, und wenn er etwas sagt, dann hört Deutschland hin. Nicht immer schüttelt es dann mit dem Kopf: Vor anderthalb Jahren zum Beispiel war der Atomkraftgegner Grass auf der Höhe des Augenblicks. Nach der Katastrophe von Fukushima las er auf einer Protestveranstaltung vor dem stillgelegten Atommeiler Krümmel. Im Interview mit dem Hamburger Abendblatt bekräftigte er damals sein Eintreten gegen Nuklearenergie, warnte aber auch vor einer "Öko-Diktatur" und allgemein vor Notstandsverordnungen, die das Leben in Demokratien regeln könnten.

Grass ist Vater von acht Kindern, zwei davon hat seine aktuelle Partnerin mit in die Ehe gebracht; man nimmt ihm die Sorge um den Planeten und eine lebenswerte Zukunft ab. Grass neigt aber, um es vorsichtig zu sagen, zu der Annahme, es stets besser zu wissen als andere: Was heute noch irritierender ist als früher, wo ideologische Verhärtungen quasi zum guten Ton gehörten und geradezu vorausgesetzt wurden. Allein die "Gruppe 47" - wie leicht es damals war, zur meinungsstarken Instanz zu werden. Fritz J. Raddatz, der frühere Feuilletonchef der "Zeit" und alte Grass-Freund, lästert in seinen Tagebüchern anlässlich eines Abendessens im Jahr 1989 bei dem Schriftsteller: "Grass, einerseits lieb und weich, freute sich offensichtlich auf den Abend mit Freunden und über Besuch - andererseits hat er eben immer diese Mittelpunkts- und Herrschergeste: 'Jetzt will ich reden', wird nervös und geradezu ärgerlich, wenn andere sich unterhalten und nicht auf sein Sphinxwort warten, mit dem er alle sieben Welträtsel löst."

Raddatz ist eh ein guter Kronzeuge für die Aura, die Grass seit Jahrzehnten umgibt: "Er ist DA, man kommt um ihn nicht herum, eine seltsame Rocher de Bronze, eine mal liebenswerte, mal starrköpfige, mal rechthaberische und mal empfindsame öffentliche Figur. Dabei ohne die 'Würde', aber ohne das Seifleinene eines Thomas Mann. Schon ein ganz eigenes Gewächs."

In Lübeck wird der 85. von Grass groß gefeiert: Bereits am Sonntag erwartet das Günter-Grass-Haus, das an diesem Tag seinen zehnten Geburtstag feiert, Gäste mit Rang und Namen. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig wird da sein, genauso wie die Autoren Eva Menasse, Benjamin Lebert und Feridun Zaimoglu. Und Helge Schneider hat sein Kommen angesagt. Zu einer Party gehört Musik, und Grass ist ein großer Jazz-Fan.

Und so wird Grass, der widerborstige deutsche Staatsdichter, in dem Rahmen geehrt, der ihm gebührt. Man sollte seine lyrischen Versuche meiden und ihm zu Ehren vielleicht einfach noch einmal Schlöndorffs "Blechtrommel" schauen.

Grass mag nicht der beste deutsche Autor der Gegenwart sein. Aber der bedeutendste, das dann doch.