Die erste Tschechow-Fassung am Ohnsorg-Theater ist eine glänzend gespielte Tragikomödie. Auf Platt, aber nie platt

Hamburg. Erst vor wenigen Tagen hatte das ZDF verkündet, den "Landarzt" nach rund einem Vierteljahrhundert einzustellen. Ach, dauernd wird irgendwo Gegenwart zur Vergangenheit, schon traurig, irgendwie, zum Beispiel für den Bürgermeister von Kappeln, der sich auch für das fiktive Deekelsen zuständig fühlt und sofort schriftlich beim Ministerpräsidenten Beschwerde einlegte. Ganz genau, dagegen, dass eine Fernsehserie eingestellt werden soll. Das wahre Leben, es ist bisweilen eines zum Kopfschütteln.

Und das Theater, es hält ihm, diesem echten Leben, in seinen guten Momenten den Spiegel vor. Die Premiere am Ohnsorg-Theater am Sonntagabend war ein solch guter Moment. Der einem zum Beispiel verdeutlichte, was man doch irgendwie schon immer geahnt hatte: dass nämlich richtig große Literatur in Deekelsen steckt. Weltliteratur. Tschechow! Tschechow läuft schon etwas länger als ein Vierteljahrhundert. Nichts deutet darauf hin, dass er demnächst grundsätzlich eingestellt wird. Am Ohnsorg-Theater allerdings wurde er bislang nicht gespielt. Warum bloß nicht, fragt man sich nun nach der Premiere von "Unkel Wanja" und reibt sich als Zuschauer verblüfft die Augen: Die russische Seele, sie steckt eindeutig in der norddeutschen Provinz! All diese Figuren, die Tschechows Stücke bevölkern und falsche Leben leben, während sie andere Leben verpassen, die unglücklich verliebt sind oder depressiv oder beides und dagegen entweder Tee oder Hochprozentigeres saufen (am Ohnsorg natürlich Kööm), sie passen geradezu kongenial ins Plattdeutsche und wurden von Hartmut Cyriacks und Peter Nissen für die Hamburger Bühne so anspruchs- wie liebevoll übersetzt.

Dabei habe er die beiden erst sanft überreden müssen, verriet Ohnsorg-Intendant Christian Seeler auf der Premierenfeier. Zum Glück ist ihm das gelungen. Dieser "Unkel Wanja" von Regisseur Michael Bogdanov, der am Ohnsorg schon Shakespeares "Sommernachtstraum" auf die Bühne brachte, ist ein weiterer Beweis dafür, was am Heidi-Kabel-Platz so alles möglich ist, wenn man keine Berührungsängste hat.

Was übrigens auch an dem wirklich vorzüglichen Ensemble liegt. In der plattdeutschen Fassung werden aus Alexander Wladímirowitsch Serebrjaków, Professor im Ruhestand, und seiner jungen Frau Jeléna Andréjewna die Seelmanns, Alexander und Helene. Aus Geldnot ziehen sie von der Stadt auf das Gut von Seelmanns erster, inzwischen verstorbener Frau und seiner Tochter Sonja sowie seinem Schwager Waldemar Vollertsen, genannt Wanja. Der alte Seelmann ist bei Wilfried Dziallas ein wunderbar ausgespielter "Grieskopp", dessen Altersstarrsinn nicht nur seine "smucke" Helene (schön und stark: Birthe Gerken) in den Wahnsinn treibt.

Oskar Ketelhut gibt den vom Schwager enttäuschten Wanja, der dessen schöne Helene verehrt (Bauer sucht Frau, gewissermaßen), in all seiner Verzweiflung aufrecht und rührend, ein trauriger Bär von einem Mann. Birte Kretschmer ist ihm ebenbürtig als seine Nichte Sonja, die nicht so smuck ist, aber dafür unglücklich verliebt in den Arzt, der hier Aster heißt statt Ástrow. Erkki Hopf verkörpert diesen tschechowschen "Landarzt", verbittert vom trübseligen Provinzleben, das sie alle auf ihre Art nicht verknusen können.

"Unkel Wanja" am Ohnsorg ist eine berührende, nie ihre Charaktere verratende, ganz fabelhafte Tragikomödie. Jetzt muss es bloß noch einer dem Bürgermeister von Kappeln stecken: Tschechow muss in Deekelsen gewesen sein.

"Unkel Wanja" Ohnsorg, Kartentel. 35 08 03 21