Das Leben ist zu kurz für schlechte Bücher: Vor der Frankfurter Buchmesse stellt die Abendblatt-Redaktion die besten Titel vor.

Hamburg. Das einzelne Wort vor lauter Büchern nicht sehen? Das kann schon mal passieren, wenn die Verlage pünktlich zum Herbst den Markt mit ihren frisch gedruckten Produkten überschwemmen. Deshalb hier an dieser Stelle die Auslese der Abendblatt-Literaturredaktion: unbedingt subjektiv, aber auch ganz bestimmt geschmackssicher. Ob Krimi, Sachbuch, Essayband oder Roman - jetzt, da die dunkle Jahreszeit beginnt, ist alles willkommen, was die Fantasie anregt, Gefühle in Wallung versetzt oder den Denkapparat fordert. Nur gut muss es sein, das Leben ist zu kurz für schlechte Bücher.

Die weltweit größte Leistungsschau der Branche ist die Frankfurter Buchmesse. Sie beginnt morgen und begrüßt als Gastland Neuseeland. Und außerdem all die kleinen und großen Verlage, die rund um den Globus dafür sorgen, dass wir immer genug literarische Nahrung bekommen.

Knapp 7300 Aussteller und 300.000 Besucher werden in diesem Jahr wieder erwartet. Informieren werden sie sich auch über die Möglichkeiten digitalen Lesens: Das Zeitalter des E-Books steht ja bevor. "Echte" Bücher mögen zwar um einiges schöner sein, eleganter und liebevoller gestaltet, am Ende kommt es aber vor allem auf den Inhalt an.

Eine gute Schule

Richard Yates, einer der wichtigsten US-Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, wurde vor wenigen Jahren wiederentdeckt. Yates' Helden, stets bemüht, ihren unglücklichen Alltag in den Griff zu bekommen, träumen vom besseren Leben, weigern sich, diese Illusionen aufzugeben. In Yates' jüngst veröffentlichtem, 1978 erschienenen Roman "Eine gute Schule" (DVA) gerät der 15-jährige William Grove, der aus proletarischen Verhältnissen stammt, durch ein Stipendium an eine Eliteschule. Yates zeigt, wie Selbsttäuschungen, Konkurrenzdruck, Lügen und Rangordnungshackereien das Leben der jungen Männer prägen oder wie William vereinsamt. Realistisch, unprätentiös, genau ist Yates' Sprache. Selbst wer sich nicht für Schuljungen interessiert, wird gefesselt sein von Yates' kühner Meisterschaft.

Kings of Cool

Es sind brutale, desillusionierende Familiengeschichten, die Don Winslow in "Kings of Cool" (Suhrkamp) zu einem gewaltigen Roman bündelt. Der Ort der Geschichte ist Kalifornien, den zeitlichen Bogen spannt Winslow, 58, von den seligen Hippie-Sixties bis in die heutige Zeit. Seine Protagonisten sind drei junge Leute, die mit Marihuana dealen und sich wie Helden fühlen, bis mexikanische Dealerbanden das Geschäft an sich zu reißen suchen. Rasant breitet Winslow die Geschichte aus, mit harter Syntax, plötzlichen Perspektivwechseln, filmischen Schnitten. Der Roman ist ein klagender, zynischer, brillanter Rap über den amerikanischen Albtraum.

"Kings of Cool" ist der beste Kriminalroman dieses Jahres. Am 2. November liest Winslow daraus beim Hamburger Krimifestival auf Kampnagel.

Limonow

Das berühmteste Buch des politischen Provokateurs und Dichters Eduard Limonow heißt "Fuck off, Amerika", bekannter wurde er damit auch hierzulande. In seiner Wahlheimat Frankreich ist Limonow in aller Munde, seit Emmanuel Carrère ihm im vergangenen Jahr den Roman seines Lebens schrieb: "Limonow" (Matthes & Seitz). Jetzt liegt das Werk auf Deutsch vor, es ist eine packende Lektüre. Limonow ist ein teilweise widerwärtiger Charakter, ein Wirrkopf, der zum Beispiel mit Völkermörder Karadzic fraternisierte; ein Pöbler und der Gründer der Nationalbolschewistischen Partei Russlands. Auch wenn man voller Abscheu den Kopf schüttelt: Dieses Leben ist fesselnd. Limonow liebt(e) Frauen und Männer, war im Knast, ist immer in der Opposition. Carrère beschreibt das alles und beschönigt nichts.

Die Zeit, die Zeit

Das Phänomen Martin Suter lässt sich so auf den Punkt bringen: Alles, was der Schweizer Schriftsteller zu Papier bringt, landet auf den Bestsellerlisten. Sein neuer Roman "Die Zeit, die Zeit" (Diogenes) ist Liebesgeschichte, Zeitreiseroman und Was-wäre-wenn-Utopie in einem, gewohnt schnörkellos und temporeich geschrieben. Zwei Nachbarn, beide Witwer, stehen jeden Tag trostlos an ihren Fenstern. Der eine will seine vor 20 Jahren gestorbene Ehefrau ins Leben zurückholen, der andere, dessen Frau vor der Haustür erschossen wurde, soll ihm helfen. "Wenn man älter wird, wird man sich der Zeit immer bewusster. Weil sie einem langsam ausgeht. Und weil man immer mehr Vergangenheit und immer weniger Zukunft hat", sagt Suter, der beweist, wie man den Leser mit einer augenscheinlich verrückten Idee fesseln kann.

Verteidigung der Missionarsstellung

Wolf Haas' "Verteidigung der Missionarsstellung" (Verlag Hoffmann und Campe) ist ein sehr unterhaltsamer Roman. Haas, der promovierte Linguist, jongliert virtuos mit der Sprache, verwendet kunstvoll Wiederholungen, bringt sich als Autor in der Geschichte unter, fügt Regieanweisungen wie "Londonatmosphäre einfügen" hinzu oder lässt seinen zwischen 1988 und 2009 spielenden Plot in einzelne Bestandteile zerfallen. Sogar das Schriftbild gibt sich verspielt. Mal sind die Lettern riesig, mal wandern sie um die Ecke oder werden winzig klein, mal sind sie chinesisch. Doch die Leser sollten sich davon nicht irritieren lassen. Im Gegenteil. Die Geschichte von Benjamin Lee Baumgartner, der seinen indianischen Vater sucht und dabei eine Tochter findet, hält entzückende Beobachtungen fest. Der Held verliebt sich immer dann, wenn irgendwo eine Seuche ausbricht (Hühnergrippe, Rinderwahn, Schweinepest). Liebe macht den Kopf verrückt. Die Geschichte ist spannend wie ein Abenteuerroman.

Gedankenlesen durch Schneckenstreicheln

Ernster Inhalt muss humorvoll verpackt werden, oder? Manchmal zumindest, Lehrer wissen das recht gut. Und trotzdem ist Schule oft gar nicht witzig; schon gar nicht in den Naturwissenschaftsräumen, wo Mikroskope und Reagenzgläser freudlos herumstehen und ungefähr so anziehend sind wie eine dicht bewachsene Wiese, die gemäht werden muss. Ist halt anstrengend. Die Wissenschaft ist anstrengend!

Außer sie wird von den Science Busters betrieben. Die Science Busters (etwa: die Wissenschaftsjäger/Wissenschaftsburschen) sind, um im Englischen zu bleiben, ein Erfolgsprodukt made in Austria . Das österreichische Wissenschaftskabarett besteht aus den Physikern Heinz Oberhummer und Werner Gruber sowie dem Kabarettisten Martin Puntigam. Ihr Bühnenprogramm funktioniert auch in Buchform, wie das fulminante "Gedankenlesen durch Schneckenstreicheln" (Hanser) beweist: glänzend geschrieben, großer Erkenntnisgewinn. Lernen wir von den Tieren!

Der Augenblick - Reportagen

Kaum eine Reporterin in Deutschland kennt sich so mit dem Alltag der Menschen aus wie Gabriele Goettle. Sie folgt deutschen Spuren, deutschen Bräuchen, deutschen Sitten, indem sie ganz normale Menschen besucht und sich mit ihnen lange beschäftigt. Goettle schreibt auf, was sie hört und sieht. Mal berichtet sie über Arbeitslose, mal über Ziegenhirten. Immer gelingen ihr lebendige, kluge, unterhaltsame und eindringliche Milieustudien. Als Leser bekommt man Einblick in fremde Arbeitswelten oder Familien, als würde man selbst dabeisitzen. 26 Porträts von Frauen liefert Goettle in ihrem neuesten Buch "Der Augenblick" (Kunstmann Verlag). Sie sind: Buchhändlerin, Medizinhistorikerin, Kulturwissenschaftlerin, Bäuerin, Ballerina, Schulleiterin oder Arbeitslose. Es sind scheinbar Allerweltsfrauen, die doch unermüdlich kämpfen. Sie erzählen, warum sie wurden, wie sie sind. Hier erfährt man mehr über Geschlechterrollen als in Gender-Debatten oder "Frauen"-Romanen. Spannend.

Sex ist verboten

Der in Italien lebende britische Autor Tim Parks hat uns über die Jahre mit Romanen über seine Befindlichkeiten unterhalten. Eine lustfreundliche junge Frau, die sich in ein buddhistisches Schweige-Kloster begibt und dort auf das Tagebuch eines Gasts stößt, steht im Zentrum von "Sex ist verboten" (Kunstmann Verlag). Warum verbringt Beth, deren Vitalität und selbstbewusstes Ego einst auf Eroberung und Ruhm aus waren, ihre Zeit im vegetarischen Restaurant eines puristischen Klosters? Beth bekämpft Dämonen. Männer und Frauen sind hier streng getrennt, aber in Beth siegt die Neugier. Sie muss das Tagebuch lesen und fängt an, seinen Autor zu beobachten. Er ist Verleger, hat eine Affäre, und irgendwann erwischt er Beth. Ein amüsanter Roman über Selbstbetrug und Überforderung.

Landgericht

Ein Stück Kriegs- und Nachkriegsgeschichte wird in Ursula Krechels überzeugendem Roman "Landgericht" (Jung und Jung) erzählt. Der deutsche Jude Richard Kornitzer, ein Richter, muss wegen des Nationalsozialismus aus Berlin fliehen. Es verschlägt ihn nach Kuba. Die beiden Kinder werden nach England geschickt, die nicht jüdische Frau Claire bleibt in Deutschland. Die Familie geht an den Nazis zuschanden, und nach dem Krieg ist eine Wiedervereinigung schwierig. Georg und Selma sind jetzt junge Engländer, Kornitzer ist zunächst staatenlos und eine Displaced Person. Er wird Direktor des Landgerichts in Mainz; er kämpft um seine Familie in dem dumpfen jungen Land, das für den Emigranten eine Herausforderung ist: Ist die Vergangenheit wirklich besiegt?

Willkommen auf Skios

Der Engländer Michael Frayn ist einer der feinsinnig-komischsten Autoren der Gegenwart. Mit seiner Verwechslungskomödie "Willkommen auf Skios" (Hanser Verlag) gelingt ihm wieder ein großes Lesevergnügen, ein toller, anspruchsvoller Unterhaltungsroman. Ein Hallodri, Herzensbrecher und Hochstapler wird bei der Ankunft auf einer griechischen Insel durch das mysteriöse Wort "Phoksoliva" mit einem schnöseligen Wissenschaftler verwechselt, der am nächsten Abend einen akademischen Vortrag halten soll. Mit im Spiel sind auch zwei Frauen - die eine verliebt sich, die andere betrügt ihren Mann - sowie zwei Taxifahrer, die durch ihren heillosen Fahrdienst dafür sorgen, dass, wie am Ende jedes guten Slapsticks, das Chaos herrscht. Keine Gewissheit überlebt, kein Auge bleibt trocken bei diesem irren Vergnügen.

Pulphead

Man muss John Jeremiah Sullivan nicht gleich in den stilistischen Adelsstand erheben, nur weil er ein bisschen in seinem Heimatland herumgefahren ist und seine Beobachtungen aufgeschrieben hat. Aber gut sind sie schon, die Amerika-Reportagen des 1974 geborenen Journalisten in "Pulphead. Vom Ende Amerikas" (Suhrkamp). Das liegt auch an der ungekünstelten Ich-Perspektive, die Sullivan recht schamlos verwendet. Egal, ob er über die Spurensuche in Indiana schreibt, wo er Axl Rose nachforscht, oder von christlichen Rockfestivals und der politischen Tea Party berichtet: Sullivan ist subjektiv. Er setzt sich den Dingen aus, er erlebt sie mit, und er breitet auf je 30, 40 Seiten die Bestandteile unserer westlichen Welt vor uns aus. Er fährt an ihre Ränder und ist doch ganz in der Mitte.