Wem gelingt der große Wurf? Heute Abend wird in Frankfurt zum achten Mal der Deutsche Buchpreis vergeben. 25.000 Euro Preisgeld.

Hamburg. Kunst sei, so sagte es der Schriftsteller Daniel Kehlmann vor einigen Jahren, kein Sport, die Vergabe-Prozedur für Autoren "demütigend" und "eine Quelle der Sorge und der Depression". Nein, Kehlmann ist kein Freund des Deutschen Buchpreises, der heute Abend zum achten Mal vergeben wird und in kommerzieller Hinsicht der wichtigste deutsche Literaturpreis ist. Manche der bisherigen Sieger-Titel wurden Kassenschlager, und auch die stilleren Bücher unter den Siegern verkauften sich ordentlich.

Kehlmann stand übrigens im Gründungsjahr des Buchpreises 2005 mit einem Roman im Finale. Er hatte sich sozusagen für die letzte Runde qualifiziert, die heute mit einem englischen Lehnwort "Shortlist" genannt wird. Den Sieger, Arno Geigers "Es geht uns gut", hängte Kehlmann am Ende aber doch ab: Seine "Vermessung der Welt" wurde international ein Bestseller. Was das über den Buchpreis erzählt? Gar nichts. Denn natürlich ist Literatur nicht messbar.

Wer heute im Frankfurter Römer die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung erhält, ist nicht etwa am weitesten gesprungen. Der Sieger ist das Resultat einer ästhetischen Entscheidung - wie bei jedem Preis, egal ob er mit Shortlists und Longlists arbeitet. Die Jury wird sich zudem überlegt haben, was der Preis für den jeweiligen Autor bedeutet: Ob er ihm hilft, sich durchzusetzen und bekannt zu werden, oder ob er einem länger gedienten Autor eine verdiente Ehrung zuteil werden lässt.

Ursula Krechels "Landgericht", Wolfgang Herrndorfs "Sand", Ernst Augustins "Robinsons blaues Haus", Ulf Erdmann Zieglers "Nichts Weißes", Stephan Thomes "Fliehkräfte" und "Indigo" von Clemens J. Setz: Das sind sie also, die sechs besten Romane des Jahres 2012. Sechs Werke und ihre Schöpfer, von einer Riege professioneller Leser ausgewählt: In der siebenköpfigen Jury prüften, diskutierten und lasen Kritiker, Lektoren und Buchhändler insgesamt 162 Romane.

Über die Auswahl lässt sich naturgemäß streiten. Aber die Shortlist verdeutlicht einmal mehr, dass man getrost vieles von dem vergessen kann, was Jurys oft nachgesagt wird in Sachen Proporz: Nur eine Frau ist dabei, dafür gleich drei Suhrkamp-Autoren und immerhin auch ein Österreicher. Clemens J. Setz, Jahrgang 1982, ist wie Stephan Thome, Jahrgang 1972, nach 2009 zum zweiten Mal in der Endrunde.

Setz ist mal das "Junggenie" der deutschsprachigen Literatur genannt worden; dabei wird sein nun nominierter dritter Roman "Indigo" diesem Ritterschlag nur halb gerecht. Als postmodernes Spiel mit popkulturellen und literarischen Zitaten ist er so leidlich gelungen, und die Idee, eine rätselhafte Krankheit zum Handlungsträger des thrillerhaften Inhalts zu machen, ist dem Kino-Blockbuster abgeschaut. Der ehemalige Lehrer eines Internats, in dem die mit der "Indigo"-Krankheit Infizierten untergebracht sind, heißt zufälligerweise Clemens Setz.

Dieser Setz will dem Rätsel der mitunter einfach verschwindenden Schüler auf die Spur kommen. Wer mit diesen Schülern zu lange in Berührung kommt, leidet unter erheblichem Unwohlsein; und wer die vielen nerd-artigen Dialoge liest, die auf alles und jeden, das irgendwie das Stigma "böse" trägt, Bezug nehmen, im Laufe der Handlung vielleicht auch: Auf was läuft diese Geschichte eigentlich hinaus? Ist sie vielleicht nicht mehr als ein Gruselkabinett?

Wenn dem so ist, dann ist sie zumindest: ein gutes Gruselkabinett mit vielen Spiegelungen. Setz sticht heraus aus der Vielzahl von Familien- und sonstigen Romanen mit hohem Wiedererkennungswert. Stephan Thome, diesmal mit seinem Selbstfindungsroman "Fliehkräfte" auf der Shortlist, gehört eher in diese auf ein größeres Lesepublikum zielenden Zusammenhänge: Er entfaltet ein großes Gesellschaftspanorama, in das das kleine Leben des Einzelnen hineinplatziert wird: mit seinen Niederlagen, Hoffnungen, Glücksmomenten und Katastrophen. Thome gilt manchen als Favorit auf den Buchpreis 2012, doch man kann auch Einwände haben gegen diesen Roman um einen alternden Philosophie-Professor. Dieser Hartmut Hainbach, der fast nur von Frauen umgeben ist und unter einer leidet - seiner Frau Maria, die die Frechheit besessen hat, nach Jahren in der Bonner Provinz nach Berlin zu ziehen, um sich dort als Assistentin eines Theater-Fexes selbst zu verwirklichen. Der lange Weg des Profs führt nach Westen, wo er in Santiago de Compostela seine Tochter besuchen will. Er hat also ausreichend Zeit, sich über die Ehe im Allgemeinen und Neubeginne im Besonderen Gedanken zu machen. Er würde ja etwas riskieren, folgte er seiner Frau nach Berlin. Seinen Professorenstuhl, sein dickes Gehalt. Die gehobene Mittelschicht und ihre Luxusprobleme also, auch darum geht es in "Fliehkräfte", und zwar mitunter über Gebühr.

Ulf Erdmann Zieglers Roman "Nichts Weißes" ist dagegen makellos. Er handelt von der Typografin Marleen Schuller, deren Werdegang in der Bundesrepublik wir verfolgen, während gleichzeitig eine Geschichte der Dingwelt erzählt wird. In ihr kommen "o.b."-Tampons vor, für die Marleens Vater die Werbekampagne entwirft, und am Ende auch Computer. Denn die Technik schreitet voran, und Marleens Suche nach der perfekten Schrift fällt zusammen mit der Erfindung der Textverarbeitungsprogramme am PC. Erdmann Zieglers Erzählstil ist unaufdringlich, souverän, pointiert - die reine Freude.

Der Sinn des Lebens sei es, sich wohnlich einzurichten, schreibt der bald 85-jährige Ernst Augustin in seinem kuriosen und schalkhaften Roman "Robinsons blaues Haus". Dort wohnt der Held manchmal in einer Bahnmeisterei: in der Zwischenwelt. Er ist auf der Flucht, auch vor dem Tod, und er hat einen imaginären Freund namens Freitag (wie der "echte" Robinson Crusoe), der in unterschiedlichen Gestalten auftritt. Augustins Buch ist ein surreales Vergnügen, aber es ist auch sperrig.

Das trifft auf Ursula Krechels Roman "Landgericht" nicht zu. Krechel, 1947 geboren, blickt mit dem Abstand einiger Jahrzehnte auf das deutsche Verhängnis und berichtet von ihm, indem sie das (reale) Beispiel eines gemäß der NS-Rassenideologie jüdischen Richters zum Zentrum ihrer Geschichte über Vertreibung, Rückkehr und Vergeblichkeit macht. Die Familie Richard Kornitzers wurde durch den Nazismus zerstört. Er versucht, eine Art moralische Wiedergutmachung der erlittenen Verluste zu erlangen - und reibt sich in diesem Kampf auf. Krechel erzählt in einer weit ausholenden Schreibbewegung von dem Exil auf Kuba, den Kindertransporten nach England und der Rückkehr ins Nachkriegsdeutschland, in dem das NS-Personal noch anzutreffen ist.

Die beste Geschichte, die der Buchpreis heute schreiben könnte, wäre die des Siegers Wolfgang Herrndorf. Der gebürtige Hamburger gewann mit seiner rätselhaft schönen, komischen und existenzialistischen Agentenklamotte "Sand" bereits den Preis der Leipziger Buchmesse. Ein Doppelschlag gelang bislang noch keinem Autor.