Glücksmoment beim Hamburger Theaterfestival: Ein Starensemble zeigt “Kinder der Sonne“

Hamburg. "Regietheater", "willkürliche Aktualisierung", "boulevardesk" - all diese Begriffe, die gern benutzt werden, wenn deutlich gemacht werden soll, dass ein Regisseur ein Stück nicht im vermeintlichen Sinne des Autors erzählt, könnte man wohl auch auf Stephan Kimmigs Inszenierung von Gorkis "Kinder der Sonne" anwenden, das im vorrevolutionären Russland spielt, bei ihm aber so aussieht, als lebten die Protagonisten in Eppendorf oder Winterhude, dort, wo das gehobene Bürgertum sich mit seinen Daseins- und Beziehungsproblemen herumschlägt.

Doch es ist eben keine willkürlich modernisierte Aufführung geworden, die am Berliner Deutschen Theater herauskam und nun beim Hamburger Theaterfestival auf Kampnagel gastierte. Zu bewundern ist ein Ausnahme-Theaterabend, ein Glücksmoment, wie er nur selten auf der Bühne zu sehen ist: Erheiternd, sinnlich, melancholisch, bevölkert von einer Mischung aus Tschechows traurig-komischen Helden, die sich empfindsam im Nichtstun suhlen und den angekratzten, verunsicherten Bildungsbürgern, wie sie in Yasmina Rezas rasanten Boulevardkomödien aufeinandertreffen. Kimmig präsentierte mit seinem Starensemble eine Theater-Sternstunde. In der auf sieben Rollen reduzierten Aufführung brillieren unter anderem Ulrich Matthes, Nina Hoss und Alexander Khuon, wenn sie von Verwerfungen und Leidenschaften reden im genauen Ton jener Eliten, die auch im Zuschauerraum sitzen.

Pawel Protassow ist bei Ulrich Matthes ein Genforscher auf der Flucht vor der Wirklichkeit, charmant entzieht er sich jeder Liebesverpflichtung. Melanija (Katrin Wichmann) ist verrückt nach ihm, schamlos verschossen, doch er schaut irritiert lieber in seine Akten. Oder seine Frau Jelena, die Nina Hoss in wunderbar schwebender Gefühlsambivalenz vorführt. Soll sie dem drängenden Werben des Malers (Sven Lehmann) nachgeben? Und wie lässt sich Pawel neu entflammen? Boris dagegen sieht sein Leben vergeudet, da Lisa (Olivia Gräser) seine Liebe zurückweist. Alexander Khuon spielt die ganze Gefühlsbreite eines Enttäuschten, Empathischen, Erniedrigten. Konterpart zu den egozentrischen Weltflüchtigen voller Ideen und Leidenschaften ist der brutale Hausmeister Jegor, der sich nicht mit Tagträumen aufhält.

Die Aufführung lebt von Gesten, Blicken. Waidwunde Menschen einer entpolitisierten Klasse suchen Sicherheit nur noch in Gefühlen. Wie herrlich, wie großartig sie versagen, ist mehr als ein Tagtraum. Es ist ein Theatertraum.