Zart, melodienselig, bloß kein Jazz: Das Solo-Debüt des schwedisch-hamburgischen Pianisten Martin Tingvall ist ein Ereignis der leisen Töne

Hamburg. Man darf nur nicht den Fehler machen, das Album mit der Erwartung in den CD-Spieler einzulegen, was jetzt kommt, habe irgendwas mit Jazz zu tun. Dieses stilistische Missverständnis begleitet in abgeschwächter Form ja auch die erstaunliche Karriere des Trios, dem der Pianist Martin Tingvall seinen Namen gibt. Aber mit dem soeben veröffentlichen Solo-Debüt "en ny dag" wird der Irrtum, bei Martin Tingvall handele es sich um einen Jazzpianisten, vollends offenbar.

Die Musik des schwedenblonden Schweden, der sein Herz einer Hamburgerin geschenkt hat, swingt nur ausnahmsweise. Dafür tanzt sie umso lieber, das allerdings meist diskret. Ihre Rhythmen erinnern mal an die einer Spieluhr in Großmutters Anrichte, mal an Kinderlieder. Manchmal, wie in "Debbie And The Dogs" oder "There's Thunder In The Air", gewinnt die Musik an Tempo und entfaltet einige motorische Intensität. Beide Stücke wirken wie unterschiedlich ausgeleuchtete Hommages an die bohrenden Ostinati, aus denen Keith Jarrett einst improvisatorische Funken schlug. Gleich darauf aber, in "After We Had Parted", folgt die Zurücknahme in tiefe Empfindsamkeit: Hier sieht man Tingvall auf der Suche nach der blauen Blume der Romantik. Die Schatzkiste mit den Blue notes bleibt zu. "For The Loved Ones At Home" dann ist fast eine Meditation.

Wer die auch international enorme Resonanz auf das Tingvall Trio verfolgt, all die Einladungen auf große Festivals, den dicht gepackten Tour-Kalender, der mag kaum glauben, dass Martin Tingvall lange Zeit Skrupel hatte, sich für ein ganzes Album allein an den Flügel zu setzen. Aber wie er es erklärt, ergibt das durchaus Sinn. Im Trio ist er gewohnt, dass eine gewisse Grundenergie von den Kollegen an Bass und Schlagzeug kommt. Davon kann man sich schon mal tragen lassen. Solo aber heißt: Man muss alles allein machen. "Ich und der Flügel! Nackt! Das ist erschreckend, aber auch toll", resümiert Tingvall, der zu den 14 Titeln auf "en ny dag" keine einzige Note aufschrieb. "Noten machen Türen zu", sagt er. Überraschendes Bekenntnis für einen, der sich in seinem Alleingang eher an Debussy, Ravel oder Schumann orientiert als an Paten des Jazz-Klaviers wie Thelonious Monk, Art Tatum oder Bud Powell.

Die "Scheu vor den großen Schuhen des Solospiels", wie Martin Tingvall es nennt, ging sogar so weit, dass er ein ehrenvolles und gewiss auch einträgliches Angebot beinahe abgelehnt hätte: Die Jazz-Piano-Reihe im kleinen Saal der Laeiszhalle, in der er im Dezember 2010 einen ausverkauften Abend mit seinem Trio gab, lud ihn zum Solokonzert. "Ein paar Tage lang habe ich innerlich Nein gesagt. Aber wie oft bekommt man so eine Möglichkeit? Ich kann nur so gut spielen, wie ich kann. Und wenn ich es schaffe, dabei frei zu sein, dann bin ich froh und zufrieden." Seitdem steht für den 17. Oktober "Solo Hamburg" in seinem Terminkalender.

Auch die uneitle Selbsteinschätzung als eher kleines Licht neben von ihm selbst wiederholt genannten Klaviergiganten wie Michel Camilo oder Keith Jarrett ist nicht nur äußerst sympathisch; sie macht, dass man Martin Tingvalls Soloalbum mit anderen Ohren hört. Der Mann will offenbar ganz etwas anderes, als die Leute durch manuellen Funkenflug in Erstaunen zu versetzen. Sein Spiel, das im kathedralenartigen Raum eines Studios in Schweden sehr klangschön aufgenommen wurde, beschenkt den Hörer mit einer besonderen Intimität.

Tingvall spielt Lieder ohne Worte, er scheut sich nicht vor der Einfachheit einer gesanglichen Linie, deren sanfte Schatten einem vielleicht erst bei mehrmaligem Hören bewusst werden. Hier ist ein Pianist zu bewundern, der sich nicht hinter Virtuosität versteckt und der doch seinen eigenen Kosmos so zum Klingen bringen kann, wie er selbst ihn hört. Wenn er schlau ist, lässt er manches davon doch noch in Druck geben. Und sei's als "Notenbüchlein für Alma" - sein erstes, am 1. August in Schweden geborenes Kind.

Martin Tingvall: "en ny dag" (Skip Records). Solokonzert: 17.10., 20.00, Laeiszhalle, Kleiner Saal, Karten unter T.: 35 76 66 66