Die ARD zeigt die Verfilmung von Uwe Tellkamps Roman “Der Turm“ mit aus Dresden stammenden Jan Josef Liefers.

Hamburg. Lässt sich ein mehr als 1000-seitiger, extrem vielschichtiger, ja ausufernder Roman wie Uwe Tellkamps hoch gerühmter Abgesang auf die DDR überhaupt verfilmen? Ist es nicht vermessen, ein stilistisch so ambitioniertes, so von Sprachkunst bestimmtes Werk mit fast provozierend langem Atem in Filmbilder von nur zweimal 90 Minuten zu übersetzen? Die teamWorx-Produktion für die ARD hat das gewagt und - um es gleich zu sagen - dieses Wagnis ist auf großartige Weise gelungen. "Der Turm", den das Erste zum Tag der Deutschen Einheit und am Folgetag in zwei Teilen ausstrahlt, wird Uwe Tellkamps Roman nicht nur gerecht, der Film erschließt das literarische Werk nun auch für jene, die es nicht gelesen haben - oder die an der Lektüre gescheitert sind.

Tellkamp siedelt seine Geschichte an dem vielleicht ungewöhnlichsten Ort des Arbeiter- und Bauernstaats an, sein "Turm" ist das Dresdner Villenviertel Weißer Hirsch. Hoch über der Elbe gelegen lebten hier vor allem Akademiker, Musiker, Opernsänger und viele Wissenschaftler, die im privaten Forschungsinstitut des renommierten Physikers Manfred von Ardenne tätig waren. In den privaten Nischen ihrer Jugendstilvillen entzogen sie sich den Zumutungen des DDR-Alltags und führten, so weit es nur möglich war, ein bildungsbürgerliches Leben, das in dieser Form in der DDR wohl beispiellos gewesen sein dürfte.

Für jene, die nicht nur den Roman, sondern auch die realen Schauplätze kennen, beginnt der Film mit einer glatten Enttäuschung: Der Schüler Christian Hoffmann, grandios gespielt von Sebastian Urzendowsky, sitzt in der falschen Bergbahn. Statt mit der Standseilbahn, fährt er mit der Schwebebahn, würde also gar nicht zum "Turm", sondern nach Oberloschwitz gelangen, was im Roman "Ostrom" genannt wird. Und bald stellt sich auch heraus, dass die Straßen und Villen, die Tellkamp teils minutiös beschreibt, im Film völlig anders aussehen.

Auf Nachfrage erklärt Produzent Benjamin Benedict: "Wir hätten gern auf dem Weißen Hirsch gedreht, aber dort sieht es heute völlig anders aus als in den 80er-Jahren. Die Villen sind restauriert, von der morbiden DDR-Atmosphäre ist buchstäblich nichts mehr zu spüren."

Am Anfang vermisst der Romankenner auch manche wichtige Szene, zum Beispiel den 50. Geburtstag, den Christians Vater, der Chirurg Richard Hoffmann, mit einem großen Fest im Restaurant "Felsenburg" feiert. Aber schon nach kurzer Zeit verdrängt der Film die Erinnerung an die realen Schauplätze und auch an manche Details des Romans. Denn auf wirklich bewundernswerte Weise ist es Drehbuchautor Thomas Kirchner und Regisseur Christian Schwochow gelungen, die zentralen Handlungsstränge herauszuarbeiten und auf manche Romanfiguren zu verzichten, ohne dass die Geschichte dabei an Substanz verliert.

Im Mittelpunkt stehen Richard Hoffmann, gespielt von Jan Josef Liefers, und sein Sohn Christian. Die Familie bewohnt eine Jugendstilvilla, man liest, spricht über Literatur, beschäftigt sich mit Geschichte, besucht Konzerte, musiziert im häuslichen Kreis und entflieht damit dem grauen DDR-Alltag. Doch ist das nur eine Flucht auf Zeit, denn die Realität des SED-Staates lässt sich nicht dauerhaft verdrängen. Christian wird in der Erweiterten Oberschule, der DDR-Variante des Gymnasiums, mit Dummheit und Charakterlosigkeit konfrontiert, muss aber selbst Kompromisse eingehen, um seinen Wunsch, nach dem Vorbild des Vaters Arzt zu werden, nicht zu gefährden. Schließlich verpflichtet er sich sogar zur dreijährigen Dienstzeit bei der Nationalen Volksarmee, in deren menschenverachtendem Räderwerk er beinahe zerbricht.

Richard Hoffmann scheint sein Leben dagegen im Griff zu haben. Er ist hoch begabt und so anerkannt, dass er sich sogar ohne SED-Mitgliedschaft Hoffnung darauf machen kann, Klinikchef zu werden. Aber die Fassade täuscht, denn der erfolgreiche Chirurg führt ein Doppelleben, hat eine langjährige Affäre mit einer Klinik-Sekretärin. Dass er seine Ehefrau Anne (Claudia Michelsen) hintergeht, bleibt nicht nur eine private Angelegenheit, sondern macht ihn für die Stasi erpressbar.

Als Tellkamps Roman erschien, hat Liefers ihn zu Weihnachten gleich achtmal geschenkt bekommen. "Ich habe das Buch damals bis Seite 120 geschafft und dann weggelegt. Nicht, weil ich es schlecht fand, sondern weil mir die Zeit dafür fehlte. Es ist ein Roman, dem man sich widmen muss, das habe ich damals nicht hingekriegt. Erst als das Filmprojekt kam, las ich das Buch dann komplett. Das war eine großartige Leseerfahrung" , sagt Liefers, der die Rolle des Richard Hoffmann als zerrissene Figur spielt, die man streckenweise sympathisch findet, obwohl man sie eigentlich verurteilt. "Er ist im Roman ein eher steinerner Mensch", meint der Schauspieler, der mit dem Regisseur Christian Schwochow lange über die Figur gesprochen hat. "Manches haben wir auch hinterfragt, zum Beispiel die extrem erkaltete Beziehung zu seiner Frau. Richard Hoffman fährt am Anfang des Films nach Hause, um mit seiner Frau und den Kindern Weihnachten zu feiern. Und mitten in der Weihnachtsfeier bricht er ab und fährt in ein anderes Zuhause, um mit einer anderen Familie Weihnachten zu feiern. Und beides hat seine Schönheit und seine Wärme. Nichts ist schal und eklig. Das finde ich gut und viel interessanter, als wenn ich sage: "Ja, bei der einen ist es noch ganz schön, bei der anderen ist sowieso nichts mehr los. Das wollten wir nicht."

Jan Josef Liefers ist ebenso wie Claudia Michelsen und andere am Film Beteiligte in Dresden aufgewachsen. "Ich kenne den Weißen Hirsch und das benachbarte Bühlau von früher. Eine Kollegin meiner Mutter, auch eine Schauspielerin, wohnte dort. Aber es war nicht meine Welt. In Dresden war die Innenstadt mein Pflaster. Keine Villen, sondern Beton, Autostraßen, Springbrunnen, Leuchtreklamen. Ich wohnte auf der berühmten Prager Straße und hielt sie immer für eine Ausgeburt menschenfeindlicher sozialistischer Architektur, musste aber später feststellen, dass wir sie im Prinzip dem berühmten Architekten Le Corbusier zu verdanken haben", sagt Liefers, der sich auch an den Rückzug aus der DDR-Wirklichkeit erinnern kann. Bei ihm war es die Theaterwelt, "eine jener unzähligen Parallelwelten, in denen das eigentliche Leben stattgefunden hat."

Liefers spielt zwar den Arzt Richard Hoffman, steht mit seiner biografischen Erfahrung dessen Sohn Christian aber eigentlich näher. "Ich kann Christian gut verstehen, kenne zum Beispiel dieses seltsame Gefühl der Überlegenheit, das mir damals gelegentlich als Arroganz ausgelegt wurde", sagt der Schauspieler und erzählt aus seiner Schulzeit, als er mit einer bornierten Deutschlehrerin über Goethe gestritten hat. Sie hatte die offizielle, "sozialistische" Lesart in Kästchen an die Tafel geschrieben, aber Liefers widersprach ihr. "Ich habe dann behauptet, dass Goethe irgendwas, was mir Recht gab, in einem Brief an Eckermann geschrieben habe - und konnte mich natürlich darauf verlassen, dass die Lehrerin niemals Goethe-Briefe gelesen hat."

Doch Liefers will seine Kindheit nicht auf die DDR reduziert wissen. "Die DDR, das waren für mich die Jungen Pioniere, die FDJ, die Aktuelle Kamera, Honecker, Stoph und Sindermann. Aber Fußballspielen mit meinem Kumpels auf dem Wäschetrockenplatz hinterm Haus meiner Oma, das war für mich nicht die DDR, das war meine Kindheit." An Tellkamps Roman schätzt er die differenzierte Sicht auf die Lebenswirklichkeit der DDR, die er zuvor oft vermisst hatte.

Diesem Anspruch wird auch der Film gerecht, dem es auf wunderbare Weise gelingt, eine berührende, aufwühlende Geschichte von Selbstbehauptung und Versagen, Glücksanspruch und Enttäuschung zu erzählen - allgemein-menschliche Erfahrungen, die vor dem Hintergrund einer diktatorischen Gesellschaft eine bedrohliche Dimension annehmen. Der Film, dessen Handlung schließlich in der Friedlichen Revolution von Herbst 1989 mündet, kommt ohne Pseudodramatik aus, ist vielmehr alltäglich, selbstverständlich und manchmal lapidar erzählt. "Genau das ist seine Stärke", meint Jan Josef Liefers: "Denn dadurch wird deutlich, was für eine Lüge, was für ein Wahnsinn, was für ein Selbstbetrug sich hinter der Normalität versteckt hat."