Harry Rowohlt liest im Thalia aus der Autobiografie des Schriftstellers, die mehr als 100 Jahre nach dessen Tod heute auf Deutsch erscheint.

Hamburg. Schlagfertigkeit sei das, worauf man erst 24 Stunden später komme, hat Mark Twain einmal gesagt. Der amerikanische Literaturgigant war ja ein Meister der geistreichen Bemerkung; Bonmots findet man von ihm zuhauf. Mehr als 100 Jahre nach seinem Tod - er lebte von 1835 bis 1910 - erscheint nun Twains Autobiografie auf Deutsch. Twain hatte dies vor seinem Tod so verfügt: dass die Memoiren erst ein Jahrhundert nach seinem Ableben publiziert werden dürfen. Und so lesen wir jetzt, längst in einem neuen Jahrtausend angekommen, wieder geschliffene Sätze des Erfinders von Tom Sawyer und Huckleberry Finn.

Sätze, die er in den letzten fünf Jahren vor seinem Tod diktierte und die Twains Scharfsinn zeigen, seine überlegene Formulierungskunst: Schlagfertigkeit ist ja nicht alles, es zählt auch die Gesetztheit der Bemerkung, das Durchdachte des zeitlichen Abstands. Und sind es nicht gerade Twains Aphorismen, die die Zeiten überdauert haben? "Die Zeit mag alle Wunden heilen, aber sie ist eine miserable Kosmetikerin", auch das stammt von Twain - genauso wie der Evergreen: "Verschiebe nicht auf morgen, was genauso gut auf übermorgen verschoben werden kann."

Das Erscheinen der Lebenserinnerungen auf viel später als nur übermorgen zu verschieben, das ist nun aber etwas wirklich Wunderbares. Mehr als eine halbe Million Mal hat sich die englische Originalausgabe der Autobiografie Twains in den vergangenen zwei Jahren verkauft. Twain ist also, das lässt sich so sagen, wieder oder immer noch sehr populär. Woher konnte er aber wissen, dass überhaupt ein Hahn nach ihm krähen würde? Die Antwort darauf ist: Wir wissen es nicht.

Wahrscheinlich hat sich Twain gar nicht viele Gedanken darüber gemacht, wie die Welt im Jahr 2010 aussehen wird, und vor allem manche Freiheiten genossen, die jemand hat, wenn er selbst die Veröffentlichung nicht mehr erlebt. Man muss dann ja so gar keine Rücksichten nehmen. Allerdings muss man sagen, dass Twains Wille des Öfteren ignoriert wurde. In Auszügen wurde der Text immer wieder gedruckt. In seiner Gesamtheit allerdings jetzt zum ersten Mal: Und deshalb ist diese kuriose Neuerscheinung, deren Niederschrift so lange her ist, ein Ereignis.

Auf Deutsch erscheint sie im Berliner Aufbau-Verlag, und der spendiert dem weltberühmten Autor posthum sogar eine kleine Lesereise. Weil Twain nun mal unpässlich ist, liest Deutschlands bester Vorleser, das ist er ganz eindeutig, Harry Rowohlt, aus dem dicken Lebensbuch des Südstaatlers. In Hamburg tut er dies im Thalia-Theater.

Mann könnte sich keinen Besseren als den Eppendorfer Rowohlt für diesen Job vorstellen. Der Bartträger Rowohlt kann seine Stimme ziemlich tief legen, und er wird das richtige Medium sein für den Bartträger Twain: "In dieser Autobiografie werde ich stets im Hinterkopf behalten, dass ich aus dem Grab spreche." Und weil Twain nicht nur ein amerikanischer Klassiker ist, sondern auch immer noch ein Vorbild an Menschlichkeit und Benimm, weist er im Vorwort ausdrücklich darauf hin, dass sein Buch "kein Rachefeldzug" sei. In der ersten Auflage seien, so die Aufforderung an die Herausgeber, "sämtliche Charakterisierungen von Freunden und Feinden auszulassen" , die deren Gefühle verletzen könnten.

Das liest sich beinahe rührend, wenn man an die Enthüllungsbücher, den Privatsender- Trash und die Internet- Shitstorms von heute denkt. Was entblättert sich nun also vor dem geneigten Leser, der sich den "neuen" Twain zur Hand nimmt? Zunächst einmal: ein reichhaltiges Buch. Wir lesen Reflexionen über alles und jedes, denn sie sind laut Twain das Eigentliche eines Lebens. Dort geht es, sagt Twain, viel mehr um das nicht Erlebte: "Was für einen winzig kleinen Bruchteil des Lebens machen die Taten und Worte eines Menschen aus! Sein wirkliches Leben findet in seinem Kopf statt und ist niemandem bekannt außer ihm."

Twains Autobiografie besitzt zu einem großen Teil die Eigenschaften eines Tagebuchs; seine assoziative Form mag auch auf die Mündlichkeit der Entstehung zurückzuführen sein. So erfahren wir von Twains Herkunft - er wurde als Samuel Langthorne Clemens in Missouri geboren - zunächst gar nicht so viel, weil Twain Chronologie überhaupt nicht wichtig ist. Über was man aber sofort in Kenntnis gesetzt wird, ist, dass er aus kleinen Verhältnissen stammt - und dass seine Mutter schon wusste, was für ein Fabulierer ihr Sohn ist: "Ich mache zu 30 Prozent Abstriche, aber der Rest ist die vollkommene, unschätzbare, ungetrübte Wahrheit."

Auf frühe Prägungen, etwa die Schulzeit, kommt er im Laufe seiner Erzählungen aber immer wieder zurück. Sie sind das Gegenstück zu den Angelegenheiten des späten Twain. Breiten Raum nimmt das tägliche Erleben des Großschriftstellers ein, dessen Bedeutung für Amerika in etwa mit der Thomas Manns in Deutschland (vor 1933) zu vergleichen ist. Twain ging zu Abendgesellschaften und Preisverleihungen, er lebte etliche Jahre in Europa, unter anderem in Berlin, in München und in Wien. Sein Blick fällt immer auf die Dinge, die ihm am wichtigsten erscheinen - was für Twain gar nicht so banal ist, wie es klingt. Aus seiner Zeit in Europa erinnert er zum Beispiel insbesondere das bekloppte Ritual, sich aus Gründen der Ehrverletzung zu duellieren. Er selbst wurde auch einmal zum Duell gefordert ("Wahrscheinlich hatte ich ihn einen Pferdedieb genannt"); in Nevada nämlich, auch in Amerika wurde der gute Name oft mit der Waffe verteidigt. Ein Gefühl für die Zufälligkeit des jeweiligen Erlebens hat er ganz eindeutig gehabt: "Sie schreiben den Zwischenfall nieder, der für Sie im Augenblick der Interessanteste ist. Wenn Sie ihn drei oder vier Wochen auf sich beruhen lassen, wundern Sie sich, weshalb Sie je daran gedacht haben, so etwas niederzuschreiben - es hat keinen Wert, keine Bedeutung. Der Champagner, der Sie zu dem betreffenden Zeitpunkt trunken gemacht hat, hat sich verflüchtigt, ist schal geworden."

Schön gesagt, oder? Ein echter Twain: Geistreich und dazu angetan, in den Zitatenschatz zu wandern. Leider benennt der kluge Mann hier auch ein Grundproblem, denn manches in diesen dicken Memoiren ist in der Tat schal - sie unterscheiden sich darin nicht von anderen Werken dieses Genres. Womit Twain am Ende natürlich trotzdem wieder die Nase vorn hat, weil er um die Zähigkeit des Geschriebenen wenigstens weiß.

Seine Erinnerungen haben ein kräftiges Zeitkolorit und sind dennoch modern: zum Beispiel, weil Kapitalismuskritik ja tatsächlich zeitlos ist. Die besten Teile der "Geheimen Autobiografie", wie der Titel des Buches, dieser ersten Lieferung der Tagebücher (die insgesamt 5000 handgeschriebene Seiten umfassen), vollständig lautet, betreffen die Twain-Familie. Twain musste Schicksalsschäge erleiden: Seine Frau starb, ebenso seine Lieblingstochter Susy. Die war gerade einmal 24 Jahre alt, als sie eine Hirnhautentzündung dahinraffte. Twains Liebeserklärung an seine Frau ("Ich habe sie mit Hunderten von Menschen verglichen, und es bleibt meine Überzeugung, dass sie den vollkommensten Charakter besaß, dem ich je begegnet bin") und seine Beschreibungen der kleinen Susy sind so menschlich wie bewegend. Und wie konsequent in seiner Vaterliebe ist Twains Entscheidung, Auszüge aus einer früheren Twain-Biografie in seine eigene aufzunehmen: Es sind diejenigen der 13-jährigen Susy Clemens, die ihren Vater porträtierte. Sie schreibe über Papa, so Susy, "weil er eine sehr bemerkenswerte Persönlichkeit ist".

Harry Rowohlt liest aus Mark Twains Autobiografie, heute, Thalia, 20 Uhr, Karten 18 Euro