Joanne K. Rowlings “Ein plötzlicher Todesfall“ ist ordentliche Unterhaltungslektüre, um die allerdings deutlich zu viel Wirbel gemacht wird.

Hamburg. So viel Bohei gab's noch nie im Zusammenhang mit einer Buchveröffentlichung. Joanne K. Rowlings Manuskript ihres ersten Romans für Erwachsene, "Ein plötzlicher Todesfall", der am Donnerstag früh um neun Uhr erschien, hatten zuvor nur 30 Menschen auf der Welt lesen dürfen. Verlagsleute, Drucker, Lizenznehmer, ja selbst die Übersetzerinnen ins Deutsche (Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol), die ihren Job übrigens großartig gemacht haben, durften den Roman vorher nur in einem fensterlosen Raum lesen. Alle Ausdrucke wurden danach geschreddert. Niemand, der in die Nähe des Buches kam, durfte einen Internetzugang oder ein Handy haben. Die Bücher wurden in verplombten Lastwagen ausgeliefert, deren Fahrer namentlich bekannt sind. Den Buchhändlern war es bei Strafe von 1000 Euro pro Buch verboten, vor neun Uhr die Verschweißungen zu öffnen oder es im Schaufenster auszustellen. So wollte man durch Informationsentzug das Interesse am Roman schüren.

Rowling ist dank ihrer "Harry Potter"-Romane zur reichsten Autorin in der Geschichte geworden. Sie soll mehr Geld haben als die englische Königin. Und das Verlagswesen, das auch dank E-Books, Raubkopien und Urheberrechtsverletzungen im Internet in seiner größten Krise steckt, beweist durch solchen Marketingrummel, wie angespannt es dort zugeht. 500 000 deutsche Exemplare wurden gedruckt. Man hofft hier, wie auch in den englischsprachigen Ländern, wo der Roman zeitgleich erschien, auf einen Mega-Bestseller. Geht's nicht auch eine Nummer kleiner? Auf dem Rückumschlag wirbt der Verlag damit, sie sei "eine der besten Erzählerinnen der Welt". Von einem Käuferandrang ist jedoch bisher noch nichts zu spüren. Aber das Weihnachtsgeschäft kommt ja erst noch.

Und Joanne K. Rowlings "Ein plötzlicher Todesfall" ist kein schlechtes Buch. Aber auch kein außergewöhnlich gutes. Es ist ein mit Spannung erzählter Unterhaltungsroman, der verwandte, befreundete oder verfeindete Figuren aus einer englischen Kleinstadt in ein Sozial- und Gesellschaftsdrama verwickelt, in dem die Doppelmoral herrscht und es von Feindseligkeiten zwischen Eltern und Kindern, Liebenden oder Mittelklassebürgern und Sozialfällen nur so wimmelt. Ein wenig geht es dabei zu wie im 19. Jahrhundert bei Charles Dickens oder Leo Tolstoi, nur ohne deren literarische Erzählkraft. Konflikte, die sich zwischen Schulhofmobbing, Facebook und Drogenmissbrauch abspielen, setzen zeitgenössische Akzente. Das liest sich flüssig und mit anhaltend großem Interesse. Die Figuren sind farbig und lebendig gestaltet. Die Konflikte könnten ebenso in einer großen deutschen Partei spielen wie im verwahrlosten Teil von Berlin-Neukölln. Die Ehe- und Liebesdramen der Mittelschicht sind genauso massenkompatibel wie die Abgründe, die sich zwischen Eltern und Kindern zuweilen auftun. Mit einem Wort: Es gibt von allem und für alle etwas. Das liest man gerne. Doch obwohl uns all diese Themen berühren und bekannt vorkommen, wirklich wahr erscheinen sie nicht. Und das wäre für große Literatur unabdingbar. Rowling beschreibt Verrohung und Verzweiflung, sie lässt ihr Personal fluchen und intrigieren, aber es gibt keinen Subtext, nichts, was uns innerlich packt oder umtreibt. Stattdessen Klischees, Schablonen, eine Milieustudie, mal putzig, mal pervers. Die Atmosphäre ist grau, die Gestaltung schwarz-weiß.

Rowling entwirft eine englische Bilderbuch-Kleinstadt, mehr Elizabeth George als Rosamunde Pilcher, mit Menschen, die von Ehrgeiz, Enttäuschung, Liebessehnsucht oder Wut angetrieben und zunehmend enthemmt werden. Zu Beginn stirbt Barry Fairbrother (man beachte den sprechenden Namen), vierfacher Familienvater und Gemeinderatsmitglied im beschaulichen Pagford, an einem Hirnschlag. Als Folge dieses Todesfalls brechen familiäre und soziale Konflikte im Ort aus, Gewalttätigkeiten und Verwilderungen, wie sie im netten Bürgertum jeder vermutet, der gewohnheitsmäßiger Krimileser ist und weiß, dass das Böse immer hinter dem Guten schlummert. Ein Vater, der seinen Sohn "Pickelfresse" nennt, ein fetter Krämer, bei dem "jeder an dessen Penis dachte, weil er den wohl nicht mehr sehen konnte", eine gut integrierte indische Familie, die alle nur "Pakis" nennen, ein Schuldirektor mit Lehrergattin und faulem Sohn, ein gemeiner Liebhaber und Anwalt, eine sexuell frustrierte Ehefrau und Krystal, 16-jährige Tochter einer Heroinsüchtigen, deren "langsamer Weg durch die Schule dem Weg einer Ziege durch den Körper einer Boa Constrictor geglichen hatte, nach außen hin gut sichtbar und unbehaglich für alle Beteiligten": Das sind nur einige der Hauptfiguren.

Im Original heißt der Roman übrigens "A Casual Vacancy" ("Eine ungeplante Vakanz"), ist also weniger thrillerhaft als in der deutschen Übersetzung, die zudem noch mit einem großen "P" im Wort "plötzlich" auf dem Titel aufwartet - im Englischen wäre es richtig, im Deutschen ist die Titel-Versalie eine neue, hässliche Unsitte.

Zwei Todesfälle wird es noch geben, Ehekrisen, verzweifelten Sex, hässliche Attacken und Enthüllungen über Missbrauch, Prostitution, Korruption. Ein bisschen viel von allem. Zu viel.

Joanne K. Rowling "Ein plötzlicher Todesfall", Carlsen, 576 S., 24,90 Euro