Aelrun Goettes eindringliches Drama “Ein Jahr nach morgen“ erzählt von Nöten Heranwachsender und dem Unverständnis der Erwachsenen.

Wer es getan hat, ist von Anfang an klar. Aber warum? An dieser Frage drohen die Protagonisten in "Ein Jahr nach morgen" zu zerbrechen. Luca (Gloria Endres de Oliveira) ist 16 Jahre alt. Vor einem Jahr hat sie zwei Menschen erschossen. Das Gewehr hatte sie aus dem Waffenschrank ihres Vaters genommen. Jetzt wird ihr der Prozess gemacht. Viele in ihrer Umgebung warten dringend auf Antworten und hoffen sie in dem Verfahren zu bekommen. Das Erste zeigt Aelrun Goettes Film heute um 20.15 Uhr.

Die ersten Sekunden machen schon deutlich, worum es geht. Zu den Bildern hört man Tori Amos' Version von "I Don't Like Mondays", einen Song über ein ebenfalls 16-jähriges Mädchen aus San Diego, das in Kalifornien 1979 ein Attentat auf seine Mitschüler begangen hatte. Zur Begründung sagte es damals: "Ich mag keine Montage. Dieses hier belebt den Tag ..." Bob Geldof schrieb den Titel und hatte mit seiner damaligen Band, den Boomtown Rats, einen Hit, den man am Ende des Films noch einmal in der Originalfassung hört. "Er kann keine Gründe sehen, weil es keine Gründe gibt", heißt es darin in einer Zeile, die womöglich auch Goette angeregt hat, ihr Drehbuch zu schreiben. Sie hat die Ereignisse in eine mittlere Kleinstadt nach Deutschland verlegt.

"Ich hätte gedacht, dass es nach einem Jahr leichter ist", sagt zu Beginn ein Mann in einer Gesprächsrunde, die die Ereignisse aufzuarbeiten versucht. Wie weit man noch davon entfernt ist, zeigt sich, als Lucas Mutter Katharina (Margarita Broich) den Raum betritt. "Wenn die bleibt, gehe ich", sagt einer aus der Runde.

Hinter den kleinbürgerlichen Fassaden der Stadt nagen viele ungelöste Vorwürfe und Probleme an den Menschen. Katharina fragt sich nicht nur, warum ihre Tochter die Tat begangen hat. Sie überlegt auch, was für ein Verhältnis sie überhaupt zu ihrem Kind hat und wie wenig sie über seine Sorgen und Nöte wusste und weiß. Sie findet das Tagebuch von Luca, die darin über sie schreibt: "Sie lächelt alles tot. Wie hält sie es nur aus, so erbärmlich zu sein?" Katharina fühlt sich, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, und reagiert lange hilflos. Von ihrem Ehemann Jürgen (Rainer Bock) bekommt sie statt Unterstützung nur Durchhalteparolen zu hören. Er ist nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen, und verteidigt nicht seine Tochter, sondern sein Hobby: "Jagen gehört zu unserer Kultur."

Als Katharina vor Gericht in einer Verhandlungspause die Möglichkeit erhält, ihre Tochter kurz in den Arm zu nehmen, lehnt sie das ab. Erst als sie Lucas Freund Julius (Jannis Niewöhner) näher kennenlernt, beginnt sie die Seelenqualen zu erahnen, die den Teenager umgetrieben haben. In Rückblenden wird deutlich, wie zerrissen das Mädchen vor der Tat war.

Aber auch Julius wird die Vergangenheit nicht los. Er wusste von Lucas Nöten, konnte ihr aber nicht helfen und macht sich jetzt Vorwürfe. Die hindern ihn auch, engeren Kontakt zu seiner Mitschülerin Nadine (Isolda Dychauk) aufzunehmen. Dabei mag er sie, und sie würde sich wünschen, dass er ihr beisteht. Denn eines von Lucas Opfern war Nadines Mutter. Während ihr Vater seitdem völlig apathisch ist, muss sie sich um ihren kleinen Bruder kümmern, der in Fantasiewelten abzudriften droht. Julius' Vater möchte seinem Sohn helfen, aber er erreicht ihn nicht.

Hilflose Erwachsene, die wenig über die Dämonen wissen, die ihre Kinder verfolgen, prägen Goettes Film. Im Zentrum steht eine Mutter-Tochter-Beziehung, der die Intimität und das Vertrauen abhandengekommen sind.

Es ist ein ambitioniertes Drama mit hoher gesellschaftlicher Relevanz, wie die Amokläufe von Winnenden und Erfurt leider zeigen. Goette, die vor ihrer Karriere als Filmemacherin unter anderem in der Psychiatrie, als Betreuerin im Jugendstrafvollzug und als Model arbeitete, hat sich in ihren Filmen wie "Die Kinder sind tot" oder "Unter dem Eis" immer wieder um Menschen in seelischen Grenzsituationen gekümmert. Das macht die Grimme-Preisträgerin auch hier mit einem differenzierten Blick und starken Dialogen.

Margarita Broich als verträumt-verzweifelte Mutter und Jannis Niewöhner ragen aus einem starken Ensemble heraus. Das Drama bietet anspruchsvolle Unterhaltung, wie man sie sich öfter wünschen würde, zur besten Sendezeit. Nicht gemütlich, sondern aufregend soll ihr Film sein, sagt Goette. Das ist er. Nicht nur, weil er sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengibt. Die gibt es so nämlich nicht, nicht einmal in einem Song.