Für eine wichtige Auszeichnung nominiert: Ulf Erdmann Ziegler liest in der Axel-Springer-Passage aus seinem neuen Roman “Nichts Weißes“.

Springer-Passage. Wenn am 8. Oktober im Frankfurter Römer der Deutsche Buchpreis vergeben wird, dann sind aus norddeutscher Sicht gleich zwei interessante Kandidaten im Rennen. Zum einen der gebürtige Hamburger Wolfgang Herrndorf, der mit seinem spielerischen und schelmischen Wüstenstück "Sand" nominiert ist; zum anderen der Holsteiner Ulf Erdmann Ziegler, der in Neumünster geboren wurde und vor einigen Jahren ein vielversprechendes Debüt mit dem reizenden Titel "Hamburger Hochbahn" vorlegte. Sein neuer Roman heißt "Nichts Weißes" - und ist zu Recht für die wichtige Auszeichnung nominiert.

Er ist nämlich nichts weniger als eine kleine Geschichte der alten Bundesrepublik, unter anderem. Der in Frankfurt am Main lebende Ulf Erdmann Ziegler, Jahrgang 1959, erzählt in seinem mosaikartigen Prosawerk aus dem Leben der Typografin Marleen Schuller und begleitet sie im Wesentlichen durch zweieinhalb Jahrzehnte: von der Kindheit im Rheinland bis nach New York, wo sie als junge Mutter direkt nach der Wende strandet. Der Fall der Mauer ist in diesem auf faszinierende Weise ökonomischen Roman, der raffiniert konstruiert ist, das einzige historische Ereignis, das Erwähnung findet.

Der Autor erzählt durchaus vom großen Ganzen, das schon; aber er tut es, indem er das Nebensächliche, das Abseitige in den Resonanzraum des Hauptgeschehens stellt. Ist nicht jeder Mensch, für sich genommen, als Einzelperson, eher nebensächlich, wenn Revolution gemacht oder ein Eiserner Vorhang niedergerissen wird? Der Leser trifft Marleen Schuller dort an, wo sich der Weltgeist eher nicht herumtreibt: in Neuss, in der baden-württembergischen Provinz, in Kassel. Erst später dann auch in Paris: Die junge Schuller ist eine Ehrgeizige, und sie ist eine der umwerfendsten Figuren, die man in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dieser Tage findet.

Weil sie, die doch Legasthenikerin ist, sich in die Buchstaben verliebt. Ihre Form, ihre Gestalt, den Raum, den sie einnehmen, und den, den sie freilassen. "Nichts Weißes" ist auch ein Buch über die Geschichte der Schrift und eines über die Technik und deren steten Drang zum Neuen. Das Motivgeflecht durchzieht diesen wundersamen Roman, den man konzentriert und genau lesen muss, damit er seine Schönheit ganz entfaltet.

Marleen, die Buchstabenliebhaberin, entstammt einer sechsköpfigen Familie. Der Vater, der tatsächlich Petrus heißt, ist ein "Mad Man". Ein Werbemann, der die Kampagne für "o.b." erfindet und Tampons bekannt macht. Die Mutter Lore arbeitet ebenfalls in der Agentur, dann kommen die Kinder. Drei Mädchen, ein Sohn. Und der Vater dockt plötzlich gewaltig an den Zeitgeist an: Er geht auf den großen Selbstfindungstrip und lernt auf Geschäftsreisen nach Indien die Vorzüge der Gurus und spirituellen Lehrer kennen. Er zieht in einen Aschram. Was für eine Unbedingtheit im Ausagieren des Lebensentwurfs - es sind die 70er-Jahre.

Die zweitälteste Tochter, die einem immer zugleich distanziert und intim gegenübertritt (das liegt an Ulf Erdmann Zieglers verblüffend diskreter Erzählweise: ganz altmodisch, ohne Bewusstseinsströme oder Ähnliches), geht alleine ihren Weg. In Nördlingen, beim Praktikum in einer typografischen Werkstatt, will sie einer gleich ehelichen ("Marle. Däädsch mi heirade?"), aber Marlene strebt weiter, sie will die perfekte Schrift finden. In Kassel lernt sie ihre große Liebe kennen. Sie heißt: Franziskus! Lässt sich aber Franz nennen und ist eine ebenso unvergessliche Gestalt wie Marleen. Ziegler braucht nur wenige Szenen, um diesen vergrämten Neurotiker in voller Pracht zu entfalten. Nachdem er Marleen, die gerade in Paris bei dem einflussreichen Typografen Titus Passeraub lernt, geschwängert hat, wird er in Hamburg Priester. Da liest er die Heilige Schrift, während Marleen die Heraufkunft der Computer gewärtigen muss.

"Dass du das siehst, Marleen, dass nichts unbeschrieben ist. Dass es nichts Weißes gibt", sagt einmal jemand zu Marleen. Die Schrift ist überall. Unsere Wirklichkeit entsteht erst, weil es Sprache gibt, das haben schon Philosophen behauptet. Als Marleen und Franz durch Paris laufen, stellen sie sich vor, dass es das alles nicht gibt: die Beschriftung der Stadt, Lieferwagen, Mülleimer, Telefonzellen. Aber Briefkästen gibt es, komischerweise. Und später schreibt Marleen Franz auch eine Karte, auf der kein einziges Wort steht.

"Nichts Weißes" ist ein literarisches Kleinod, einer der besten Romane der Saison. Morgen Abend liest Ulf Erdmann Ziegler in der Axel-Springer-Passage. Sollte man nicht verpassen.

Ulf Erdmann Ziegler liest Mi 19.9., 19.00, Axel-Springer-Passage (U Gänsemarkt/S Stadthausbrücke), Caffamacherreihe 3, Eintritt 10,-