Jesper Juul füllt mit seiner Lebenserfahrung als Familientherapeut große Säle, doch zum großen Star eignet sich der populäre Däne nicht.

Hamburg. In einem seiner vielen Bücher erzählt Jesper Juul eine Anekdote aus seinen späten Kindertagen. Sie soll als Beispiel dafür dienen, wie im Elternhaus des 1948 geborenen Familientherapeuten aus Dänemark allgemeingültige Normen und Werte noch völlig fraglos die Erziehung bestimmten, die ihm zuteil wurde. Er wollte, mit zwölf Jahren, zu einem Jazzkonzert. Die Mutter lehnte das kategorisch ab: Kommt nicht infrage! Welchen seiner Kameraden Jesper Juul damals auch fragte, alle hatten zuhause dieselbe Abfuhr kassiert. Lehrer, Eltern, Großeltern, die Erwachsenenwelt: ein Bollwerk. Heute sei dieser Wall zerbröselt, schreibt Juul. In einer vergleichbaren Situation jetzt könnten die Kinder ihre jeweiligen Eltern gegeneinander ausspielen und würden die eigenen so lange belatschern, bis die entnervt nachgäben. Jedenfalls die meisten von ihnen.

Aber Juul hat die Anekdote in seinem Buch nicht zu Ende erzählt. Als Einstieg in unser kurzes Gespräch gestern Mittag in Hamburg - abends war er zu Gast bei einer Veranstaltung im ausverkauften Thalia-Theater, heute ist er in der NDR Talkshow (N3, 22.00 Uhr) - wollte ich eigentlich nur von ihm wissen, welcher Musiker oder welche Band denn damals das Konzert gab, das er als Zwölfjähriger so gern besuchen wollte. "Ben Webster", sagt er ohne eine Sekunde des Nachdenkens. "Ben Webster und Stuff Smith. Die beiden zusammen, das war schon was!" Hat er lange der von den strengen Eltern vereitelten Gelegenheit nachgetrauert, den großen Tenorsaxofonisten mit dem legendären Swing-Geiger live zu erleben? "Wieso?", sagt Juul fröhlich. "Ich bin doch hingefahren. Zwei Stunden mit dem Bus zum Jazzband-Ball. Es war am 26. Dezember. Als ich zurückkam, hat niemand etwas gesagt. Die Eltern wussten nicht, was sie sagen sollten."

Die Kindheit des Jesper Juul, der seit 40 Jahren als Familientherapeut arbeitet, in dem von ihm mitbegründeten Institut "Family Lab" in einigen Ländern Familientherapeuten ausbildet und beim heiß umkämpften und medial begehrten Thema Kindererziehung längst eine der streitbaren Größen in Europa ist, kann so schlimm also nicht gewesen sein. Es gab offensichtlich ein Loch im Bollwerk, und durch das ist er geschlüpft: Die Sprachlosigkeit der Eltern über ihren Ältesten, der ihr Verbot ignoriert. Und ihre Entscheidung, ihn dafür nicht zu bestrafen.

Etwas von diesem unbotmäßigen Jungen, dem nichts passiert, steckt noch immer in dem gedrungenen, übergewichtigen Guru einer neuen Pädagogik, der in diesem Jahr 65 wird und sich gern Zeit für seine Antworten nimmt. Ein Abend mit ihm wird plakatiert, als käme ein Popstar in die Stadt. Alte Oper Frankfurt, Heiligkreuzkirche Berlin, Thalia-Theater Hamburg - es sind noble Adressen einer bildungsbürgerlichen Mittelschicht, die sich von Juul Orientierung erhofft im Dickicht zwischen Windeleimer, mehreren Festmetern von Elternratgeberliteratur und Zahnputzverweigerung. Dabei ist Juuls Botschaft in all ihrer Komplexität simpel. Er hat eine Art, gescheit zu reden, bei der man sofort denkt: Klar, wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen.

Das hat er mit Richard David Precht gemeinsam, der in der für ähnlich unpopulär wie die Pädagogik gehaltenen Disziplin der Philosophie die Massen entzückt. Aber Juul ist fürs Pirouettendrehen auf dem Parkett des vermeintlichen Scharfsinns denkbar ungeeignet. Er ist kein Pfau, der die Bühne braucht, sondern ein Team-Tier. Seine Vorträge tragen eher den Charakter eines Seminars als den der lockeren Performance.

Juul spricht von einem Paradigmenwechsel, der sich in den letzten etwa 15 Jahren vollzogen habe, weg von einer Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern, wobei die Kinder die Objekte waren, hin zu einer Subjekt-Subjekt-Beziehung.

Doch da geht die Malaise gleich wieder neu los. Denn wenn die Kinder nun zum gleichwürdigen Gegenüber befördert sind: Muss man ihnen als den Schwächeren denn dann nicht erst recht in ihren Wünschen und Bedürfnissen entgegenkommen? Jesper Juul hat auf solche Einwände ein paar wirksame Sätze parat. Einer geht: "Kinder fordern unheimlich viel Aufmerksamkeit, das stimmt. Aber sie brauchen nicht so viel." Ein anderer: "Kinder brauchen die Erfahrung der Frustration, um die ihnen angeborene Fähigkeit zur Empathie auszubilden."

In seinem flüssigen Deutsch erläutert Juul, dass eine gute Beziehung keine kinderfreundliche Beziehung ist, sondern eine, in der sich alle Beteiligten wohlfühlen. "Ich weiß, was man von mir will: Ich soll sagen, was ist das Beste für das Kind? Das weiß niemand. Das Kind ist doch von seinem System ganz und gar abhängig; je besser es den Eltern geht, desto besser geht es dem Kind. Aber das will man im deutschsprachigen Raum nicht hören. Hier muss es immer das sein, was 'das Beste für das Kind' ist. Dafür kämpfen wir, dafür töten wir" sagt Juul und lacht gemütlich.

Von antiautoritären Parolen, vom Laisser-faire ist er also weit entfernt. Juul wirbt bei den Eltern darum, dass sie authentisch werden und das Schauspielern aufgeben, das seiner Beobachtung nach jahrelang vorherrschte bei Eltern, die so gern beliebt sein wollten bei ihren Kindern und die sich dafür verstellt und ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen verleugnet haben. "Ich habe viel Sympathie für die Eltern heute. Die Medien und die Opas und Omas hacken auf ihnen herum, dass sie keine Grenzen setzen könnten. Diese Eltern suchen Rat, fragen sechs Leute um ihre Meinung und kriegen zehn Antworten. Man kann diese Elternrolle nur ausfüllen, wenn man ehrlich ist."

Und dann gibt Jesper Juul ein Beispiel, er erzählt von sich. Dass er als Kind nicht viel gespielt habe und auch in den ersten drei Jahren mit seinem Sohn wenig Talent dafür hatte. Auf Vorhaltungen seiner Frau reagierte er brummig bis unwillig: "Wieso, ich spiel doch mit ihm." Irgendwann konnte er seinem Sohn sagen: "Hör mal, ich will gerne mit dir spielen. Aber ich weiß nicht, wie das geht. Zeigst du's mir?"

Die Beziehung selbst zum Gegenstand zu machen und nicht ihren Inhalt: Das ist ein Großteil der Erziehungskunst, wie Juul sie versteht. Die Verantwortung dafür liege bei den Eltern, Fehler seien in Ordnung. Was macht aus Eltern gute Eltern, Herr Juul? "Wenn sie Verantwortung für ihre Fehler übernehmen, die sie entdeckt haben."