Tolle Stimme, ausverkaufte Große Freiheit - doch in das Konzert der jungen Bewahrerin klassischen Souls mischte sich manch Wermutstropfen.

Hamburg. Als Joss Stone am Dienstag nach 80 Minuten und der zweiten Zugabe "Right To Be Wrong" barfuß von der Bühne der ausverkauften Großen Freiheit 36 läuft, ist eigentlich noch kein Ende absehbar. Die Band beginnt den nächsten Song. Die Background-Brummen wiegen sich im Takt. Das Schlagzeug zischelt nervös. Doch statt der britischen Soul-Sängerin einen weiteren Teppich aus satten Grooves auszubreiten, ziehen sich auch die Musiker nach und nach zurück. Saallicht. Musik vom Band. Schade.

Vor zwei Jahren im Docks schenkte Joss Stone immerhin noch zehn Minuten mehr. Und selbst 90 Minuten reichen eigentlich nicht aus, um dieses kleine Wunder mit der großen Stimme zu erfassen. In die Kleidung ihrer Idole Aretha Franklin oder Solomon Burke , mit dem sie kurz vor seinem Tod im August 2010 im Stadtpark auftrat, könnte sie einziehen. Und doch wohnt eine unheimliche Energie in ihr. Eine Stimme, die auch bei mäßigem Sound in der Freiheit eine Kraft freisetzt wie die Gasdruck-Fanfaren, die in den 70er- und 80er-Jahren die "Stimmung" in den Fußballstadien dominierten. Eine Stimme, mit der sie beim "Eurovision Song Contest" als Windmaschine die Haare der ungezählten Hupfdohlen wehen lassen könnte, die nicht einmal halb so viel Talent wie sie besitzen.

Dabei ist Stone mehr als nur eine Sängerin. Sie ist eine der modernen Lordsiegelbewahrerinnen des klassischen Funk und Soul. Auf ihrem ersten Debüt 2003 und auf ihrem aktuellen sechsten Album, "Soul Sessions" Teil eins und zwei, widmet sie sich Songs, die in den 60ern und 70ern von Sugar Billy oder The Chi-Lites aufgenommen wurden - Künstler, die viele der 1500 Besucher in der Freiheit, von Teenagern bis zu Zeitreisenden aus den 80ern (inklusive passendem Minipli und Schnauzbart) kaum im Plattenregal oder auf dem iPod haben dürften.

Aber Stone und Band transportieren die Klassiker und Raritäten so gekonnt in die Neuzeit, dass von ihrer Authentizität nichts verloren geht. Der Auftakt "(For God's Sake) Give More Power To The People" rempelt sich förmlich durch die dichten Reihen, um Platz für das Honey-Cone-Cover "While You're Looking Out For Sugar" zu machen. Und beim mächtigen "Super Duper Love (Are You Diggin' On Me)" beginnt man sich zu fragen, warum Joss Stones Karriere in den letzten Jahren an Fahrt verloren hat.

"The Soul Sessions" (2003), "Mind Body & Soul" (2004) und "Introducing Joss Stone" (2007) waren ihrerzeit Millionenseller, die reinste Platinmine. Und das sogar in den Vereinigten Staaten, die britische Stars gern ignorieren. Nebenbei versuchte sich Stone (mäßig erfolgreich) im Schauspielfach und startete mit Mick Jagger und Damian Marley das Bandprojekt Superheavy . Grammy, Brit Award und Co. verstopften die Vitrine.

Und doch kam "The Soul Sessions Volume 2" seit Juli dieses Jahres weltweit nur auf knapp 100 000 verkaufte Einheiten. Dabei stehen die Interpretationen von "Teardrops" (Womack & Womack) oder "The High Road" (Broken Bells) auch live in der Freiheit ihren älteren Liedern in nichts nach, was auch für Stones eigene Songs wie "Big Ol' Game" gilt. Es macht Spaß, ihr beim Tänzeln, beim Schäkern und beim Haareschütteln zuzuschauen. Es macht noch mehr Spaß, "Stoned Out Of My Mind" zu hören: Bierbecher zwischen Zähne nehmen, applaudieren, Kehle anfeuchten und mitsingen.

Es nützt nichts, immer wieder nachzurechnen: Ja, Joss Stone ist erst 25 Jahre jung und schon seit neun Jahren dabei. Ihr erstes Album erschien einen Monat vor "Frank", dem Debüt von Amy Winehouse, die erst 2006 mit "Back To Black" für Furore sorgte. Amys letztes Album. 2008 wurde Duffy entdeckt wie auch Adele , die heute mit 24 über ihren britischen Neo-Soul-Kolleginnen thront und die Königin des Pop ist. Wenn man Pop nicht als Produkt begreift, sondern als Entfaltung von Talent, Persönlichkeit und Zugänglichkeit. Die nächsten stehen schon in den Startlöchern wie die fantastische Kimbra , 22, aus Neuseeland oder die blutjunge Birdy, 16, aus England, die in den letzten Tagen live im Gruenspan und in den Fliegenden Bauten beachtliche Tonspuren hinterlassen haben.

Obwohl Joss Stone jünger ist als der Durchschnitt des Publikums in der Großen Freiheit und immer noch "Newborn" aussieht, wie ihre erste Zugabe heißt, scheint sie schon eine Nachricht von gestern zu sein. Gut ist nur, was neu ist. Und nur was neu und ungeahnt ist, ist eine Sensation.

Dabei ist Stones Stimme sensationell, ihre Ausstrahlung bodennah wie ihre nackten Füße. Die Liste ihrer eigenen Kompositionen und die zahlreichen Interpretationen alter Funk- und Soul-Helden reicht für drei kurzweilige Stunden oder zumindest noch für zwei finale Medleys wie im Juni in New York. So ist ihr erster Song an diesem Abend auch der, den man ihr am Ende - sehr frei übersetzt - hinterherrufen will: "(For God's Sake) Give More Power To The People". Um Himmels willen, schenk uns noch mehr von deiner Kraft!