16.300 Menschen genossen am Sonnabend die 9. Hamburger Theaternacht. Das Galli-Theater und das Theater Mignon waren erstmals dabei.

Hamburg. Dunkle Wolken hängen über der Binnenalster, doch die Gebäude am Ballindamm strahlen in der Abendsonne. Sonnabend, 19 Uhr, noch eine Stunde bis Geschäftsschluss. Hektische Einkäufer mischen sich mit Touristen - und einer Vielzahl von Hamburger Bühnen-Fans. Denn einmal im Jahr, bei der Theaternacht, sind auch sie im Stadtbild so richtig präsent. Nicht nur vor der zentralen Jungfernstieg-Bühne, auf der die Intendanten-Prominenz mit Isabella Vértes-Schütter vom Ernst-Deutsch-Theater, Joachim Lux (Thalia) und Norbert Aust (Schmidt und Schmidts Tivoli) als Vorstandsmitglieder des Vereins Hamburger Theaternacht just die neunte Auflage eröffnet. Auch auf dem Anleger warten Scharen von Menschen. Mit einem der acht Alsterdampfer wollen sie zum Winterhuder Fährhaus oder zur Kampnagel-Fabrik schippern.

Dann doch lieber einen der 50 Shuttlebusse nutzen - ist ja alles in der Eintrittskarte zum Preis von zwölf Euro enthalten - und bisher unbekanntes Terrain entdecken. Motto: Wer nicht laufen will, muss fahren. Die Linie 401 führt raus aus dem City-Trubel bis nach Bahrenfeld. Wie hat doch Kultursenatorin Barbara Kisseler in ihren Grußwort so schön Hugo von Hofmannsthal bemüht: "Nur wer sich auf den Weg macht, wird neues Land entdecken." In diesem Fall das Galli-Theater und das Theater Mignon, zwei Debütanten unter den 41 beteiligten Bühnen.

Die Tour über St. Pauli und Altona gleicht einer kleinen Stadtrundfahrt. Eine Enddreißigerin ("Hier an der Königstraße hab ich auch mal gewohnt ...") unterhält fast den ganzen Bus. Endlich, Ausstieg an der Behringstraße. Zum Galli-Theater geht es über gleich zwei große Hinterhöfe. Doch die Stahltür ist zu. Vor ihr sitzen statt Theaterordnern nur ASB-Sanitäter der angrenzenden Rettungswache Ottensen. "Einlass erst wieder viertel vor" steht auf einem handgemalten Schild. Also mit dem nächsten Bus weiter Richtung Mignon. Ist ja ein Dinner-Theater. Trotz gedrückten Stopp-Signals braust der Fahrer unversehens am Bahrenfelder Friesenweg vorbei. "Halt!", rufen gleich mehrere Fahrgäste. Nach einem rückwärtsgewandten Fußmarsch stößt der Trupp im neu eröffneten Theater Mignon in ZINOs Lounge direkt in eine Fechtszene. Rainer Wolke als Georg Friedrich Händel und Thomas Lindhout als Johann Mattheson duellieren sich mit dem Degen. Der Streit unter den befreundeten Komponisten ist Teil des "Hamburger Barock-Dinners" und hat sich so 1706 auf dem Gänsemarkt zugetragen, weiß Regisseurin Melanie Thiesbrummel zu berichten. Obwohl ein "Sacher-Würstel" für 3,50 Euro, mit scharfem oder süßem Senf auf der Pappschachtel, kein Vier-Gänge-Menü ersetzen kann, machen die folgenden Ausschnitte aus dem 20er-Jahre-Programm "Absinth" mit Live-Band, Charleston und Tucholsky-Texten unterm Kronleuchter Lust auf mehr.

Appetitanreger, genau das soll die Hamburger Theaternacht bieten.

Was aber bietet das Galli-Theater? Der zweite Versuch: Leiterin Heidrun Ohnesorge erzählt, dass der Saal im ersten Stock früher als Kantine und als Werkstatt diente, ehe das Galli-Theater im Februar hier eröffnet hat. Benannt ist es nach dem Autor Johannes Galli. Weil der erst am Mittwoch vorbeischauen kann, um seinen Roman "Die Liebesschule" vorzustellen, spielen die Darsteller Auszüge seiner Theatercomedy "Männerschlussverkauf" und Märchen.

"Rotkäppchen" ist primär für Kinder gedacht, Apostulos Dulakis macht daraus im Wolfskostüm jedoch einen anarchischen Spaß. Sein Schauspielhunger ist derart groß, dass er einer Zuschauerin in der ersten Reihe ihr angebissenes (!) Schmalzbrot stibitzt, auf der Bühne vertilgt und das Ganze mit einem Glas Rotwein eines anderen Gastes runterspült. Dagegen wirkt das eigentliche Märchen für Erwachsene, "Der Wolf und die sieben Geißlein", unter dem Aspekt von Krankheit und Heilung verkörpert von Schauspielerin und Ärztin Dr. Tatjana Maya, fast brav.

Nicht so das Theater Klabauter in Borgfelde. In dem ehemaligen Gemeindehaus unweit der bekannteren Off-Bühne Sprechwerk hat um 23 Uhr schon die fünfte Vorstellung begonnen. Rechts führt eine Rampe auf die Bühne - für Rollstuhlfahrer. Zum Ensemble gehören auch zwei Schwerstbehinderte und ein Spastiker, wie Regisseurin Astrid Eggers berichtet. Die drei wirken beim finalen Set nicht mehr mit. Doch auch die anderen neun Darsteller, alle körperlich oder geistig behindert, packen und amüsieren die Zuschauer mit Auszügen ihres "Crazy Sommernachtstraums", ein Stück nach Shakespeare, angereichert mit Ideen aus Benjamin Leberts Roman "Crazy". Ihre Bühnenpräsenz überzeugt, ihre Sprache ist klar, und auch wenn bei einigen Szenen und Liedern wie dem originellen "Muh"-Song nicht immer alle Einsätze stimmen, halten sie es aus. Hier sind professionelle Schauspieler am Werk, 40 Vorstellungen geben sie pro Jahr. "Alle haben eine Sprechausbildung, Gesangs- und Tanzstunden", sagt Astrid Eggers, nachdem sie als Kuh ausgeholfen hat.

Zum sechsten Mal war das Theater Klabauter, das von der Stiftung des Rauhen Hauses getragen wird, bei der langen Nacht dabei. "Es war zwar nicht supervoll, aber gut gefüllt", sagt Astrid Eggers. Einige neue Besucher haben ihre Adressen dagelassen, nicht etwa aus Mitleid. "Viele Leute glauben immer noch, dass behinderte Menschen doof sind", bemerkt Eggers etwas salopp. "Dann sind sie glücklich, dass sie bei uns solch einen Spaß haben können." Schauspieler Niklas Oldhafer, seit der Gründung des Theaters 1998 dabei, erzählt stolz, dass ihm ein Theaternacht-Besucher gesagt hat, die Gruppe sei für ihn "die Entdeckung des Abends".

Dass dies auch im großen Rahmen passiert, zeigt nach Mitternacht die "Verrückte Stunde" in der Staatsoper. Das Hamburger Musik-Comedy-Trio Bidla Buh, sonst in der Komödie Winterhude zu Hause, bringt fast 1000 Menschen mit seinem "Busenblues" und kuriosen Versionen von "Mein kleiner grüner Kaktus" bin hin zu Parodien von Bandleader Hans Torge Bollert auf Marius Müller-Westernhagen zum Lachen und Klatschen.

Insgesamt 16 300 Menschen haben bei der neunten Hamburger Theaternacht Beifall gespendet. Erst nach 1 Uhr verlassen die letzten Besucher die Oper. Über der Binnenalster scheint längst der Mond, die letzten Alsterdampfer legen am Jungferstieg an. Ganz leise.