Im “Tatort: Borowski und der stumme Gast“ spielt Lars Eidinger als Psychopath und wahrer Albtraum-Märchenprinz Kai Kalkhorst alle an die Wand.

Eine Frauenstimme, panisch vor Angst, flüstert ins Telefon: "Er ist in meiner Wohnung. Er kommt einfach durch die Wand." Aber bis der wackere Notruf-Polizist reagieren kann, ist natürlich schon alles geschehen und nur zwei Szenen später stapfen Spurendienstmitarbeiter ganzkörperverpackt in einer verbarrikadierten Kieler Mietwohnung über das Schlachtfeld der vergangenen Nacht.

"Haben Sie ihr Gehirn gesehen?", fragt die Mitermittlerin den Kommissar, der daraufhin mit seinem Frühstück ringt. Es wird nicht das einzige Hirn bleiben bis zur Abspannmusik.

Härter und hitchcockiger, gewürzt mit einer ordentlichen Dosis Hannibal-Lecter-Schockeffekt war wohl lange kein "Tatort"-Anfang. Aber in "Borowski und der stille Gast" schweigen keine Lämmer, das Herz der Finsternis schlägt in einem unscheinbaren Postboten, den die Kamera und die Handlung umkreisen wie eine Motte das Licht, weil er so verführerisch ist und so tödlich. Wer der Täter war, ist fast von Anfang an klar, warum er es war, auch. Das Wie entfaltet sich im vierten Borowski-Fall aus der Feder von Sascha Arango mit geradezu sadistischer Langsamkeit. Wie gut er den Horror in die Länge ziehen kann, hat Arango in jedem der bisherigen Krimis bewiesen.

Den Mann vom Paketdienst, der nicht immer ordnungsgemäß klingelt, spielt Lars Eidinger schlicht sensationell. Eidinger, seit Jahren einer der Stars der Berliner Schaubühne und gerade auch im Familiendrama "Was bleibt" neben Corinna Harfouch im Kino präsent, macht sich in dieser Rolle derart klein und unscheinbar, dass man ihm seine 1,90 nie ansieht.

Es gibt da diese eine Szene, in der er in einer leeren Wohnung unterwegs ist, um sich alles einzuverleiben, jedes Lebensdetail der neuen fremden Frau in seinem Leben. Und dann leckt er, sanft, genüsslich, an der angebissenen Laugenbrezel seines ahnungslosen Opfers.

Als Eidinger 1999 die Abschlussprüfung an der Schauspielschule Ernst Busch ablegte, begann er den Franz-Moor-Monolog aus Schillers "Räubern" ganz ähnlich. Um darzustellen, wie Moor über Mordpläne an seinem Vater nachdenkt, setzte sich Eidinger hin und lutschte eine Minute lang stumm einen Bonbon. Danach hatte er seinen Vertrag für die Schaubühne. So einer ist dieser Typ, genau so spielt er den Psychopathen Kai Korthals bis zum bitteren Ende. Auf TV-Kommissar möchte er noch nicht abonniert sein, hat Eidinger einen Porträt-Verfasser vor einiger Zeit wissen lassen. Das wäre für ein Präsenz-Monster wie ihn zu einfach, zu wenig. Außerdem, das zeigt diese grandiose Leistung, mit der er das Sonntags-Krimi-Format im Alleingang aus seinem Rahmen sprengt: Als Schlächter ist Eidinger viel besser. Gut sein und aufrichtig, das können viele, dafür braucht es einen wie ihn nicht.

Dass Axel Milberg als Kriminalhauptkommissar Klaus Borowski einige Schrullen haben und pflegen darf, genießt er auch hier. Das uralte Mobiltelefon, das gestelzte, schulmeisterliche "Ich höre ...!", wenn es klingelt, die durchfallbraune Antiquität, mit der er zum jeweiligen Tatort knattert oder auf Schuldigensuche durchs Kieler Umland, es geht wohl nicht ganz ohne solche Markenzeichen-Mätzchen. Nach der Kaurismäki-Hommage in Finnland, in der ihm Maren Eggert als die insgeheim wohl doch geliebte Polizeipsychologin Dr. Frieda Jung auf mysteriöse Art und Weise abhandenkam, musste sich der Wortkarge aus dem hohen Norden allerdings beherrschen. Außerdem begann die Gewöhnungsphase an die neue Kollegin Sarah Brandt, deren straßenköterhafte Schläue und Oberflächenhärte Sibel Kekilli immer besser in den Griff bekommt.

Für die Komik war unterdessen der stoffelige Vorgesetzte Schladitz zuständig, der auch hier als weiterer Beziehungstrottel eine hübsche Beamten-WG-Szene spendiert bekommt.

Viel schöner und skurriler allerdings ist der Moment, in dem Borowski seinen altersschwachen VW Passat mit einem gezielten Fangschuss aus der Dienstpistole ins Dienstwagen-Jenseits ballert. Wortlos, konsequent, eine Detlef-Buck-Szene ist das, Waterkant-Existenzialismus vom Feinsten.

Doch all das sind letztlich nur Kulissen für die Hauptsache. Für Eidinger als schüchtern stammelndes Phantom mit Hornbrille, der alle Aufmerksamkeit wie ein Magnet an sich zieht, der mitleiderregend nach Liebe sucht und Nähe und im nächsten Moment eiskalt und berechnend Leben beendet, als würde er lediglich kaputtes Spielzeug entsorgen. Ein Albtraum-Märchenprinz, der nur das Gute will und stets das Böse schafft. Mit etwas Glück könnte Eidinger es dank dieser Wahnsinnsrolle glatt bis zum Serientäter bringen.

"Tatort: Borowski und der stille Gast" So 9.9., 20.15 Uhr, ARD