Mit “Der Ghetto Swinger“ starten die Hamburger Kammerspiele mit einem echten Hit in die Saison

Hamburg. Ganz am Ende, als der Applaus nicht abebben will und die Schauspieler auf ihn weisen, steht Coco Schumann auf, nickt, blinzelt ein wenig aus seinen Augen, in denen Tränen stehen, und formt mit den Lippen das Wort "Danke". Zwei Stunden hat sich der 88-Jährige von der zweiten Reihe aus Szenen aus seinem bewegten Leben angeschaut. Und mit der Collage über den Jazzmusiker, die Sonntag Premiere feierte, starten die Hamburger Kammerspiele mit einem Hit in die neue Saison.

"Der Ghetto Swinger" hält unter der Regie von Gil Mehmert alles bereit, was ein sehr guter Theaterabend braucht. Er unterhält intelligent. Er klärt auf, verzichtet aber auf den Zeigefinger. Er berührt tief, ohne rührselig zu sein. Und vor allem erzählt er von einem individuellen Schicksal, das doch universelle Gefühle vermittelt: Neugierde, Spieltrieb, Verwirrung, Angst, Überlebensdrang. Und immer wieder: die Liebe zur Musik. Der Swing-Sound der 30er- und 40er-Jahre, er wirkt fast wie ein eigener Charakter, der atmet und flirtet, der leidet und kämpft. Das ist vor allem dem schönen Einfall zu verdanken, die fünfköpfige (exzellente) Band als Akteure einzubinden.

Schlagzeuger Christoph Kähler etwa spielt unter anderem Onkel Arthur, der dem jungen Schumann den weisen Rat gibt: "Sei immer da, wo die Musik ist." Kontrabassist Robin Brosch gibt ebenso den Vater, der Schumanns Gitarre aufbewahrt, als dieser deportiert wird. Und Violinist Christoph Tomanek tritt vom Todesarzt Josef Mengele bis zum Rottenführer als das personifizierte Böse auf, führt die NS-Ideologie aber auch ein ums andere Mal ad absurdum.

Die erste Hälfte, als der junge Schumann in Berlin seine Kunst, den Swing, dieses "Elektrisch sein von innen" kennenlernt, ist eher in Dur gehalten. Die zweite Hälfte, mit der Verschleppung des "Halbjuden" nach Theresienstadt, Auschwitz und Kaufering, tönt zunehmend in Moll. Und mancher Schrecken lässt sich nur mit dem leisen schrägen Klang einer Geige ausdrücken.

Zusammengehalten wird die Geschichte durch Helen Schneider, die im guten Timing der Inszenierung von einer Rolle in die nächste driftet. Ohne sich umzuziehen. Immer mit schwarzem Pagenkopf und rotem Mund. Somnambul und stolz zugleich. Sie erzählt von Schumanns Stationen, verkörpert dessen Mutter und Schutzengel. Und sie singt rauchzart Lieder wie "Es gibt nur ein Berlin", "An allem sind die Juden schuld", "Night And Day" und "I Got Rhythm". Diese Songs wirken aber nie wie zur Revue aufgereiht, sondern werden dramaturgisch gebrochen und aufgeladen. Kraftzentrum der Handlung wiederum ist Konstantin Moreth, der nicht nur Schlagzeug und Gitarre spielt, sondern seinem Coco feine Konturen von der Flitzpiepe in kurzen Hosen über den gewitzten Draufgänger bis hin zum erschöpften Häftling verleiht.

Ein weiteres Plus: Die Imagination der Zuschauer wird immer wieder gefordert. Nicht nur durch das reduzierte Bühnenbild, sondern vor allem durch Mimik und Gesten, die so manche Requisite ersetzen. Ein Dreh mit der Hand und flugs entsteht vorm geistigen Auge ein Plattenspieler. Ein Lächeln beim Gitarrenspiel und schon wissen alle: Hier ist jemand ganz bei sich angekommen.