Jenny Erpenbecks neuer Roman erzählt ein Leben in fünf Toden - aber das recht grandios

Natürlich ist das ein wenig bemüht, wenn man die Hauptfigur seines Romans gleich fünfmal sterben lässt: als Kind, als Mädchen, als Frau, als Mutter, als Greisin. Das hätte man auch einfacher haben können, vielleicht fünf Leben nebeneinanderlegen, aber darum geht es Jenny Erpenbeck nicht, und der Erfolg gibt ihr recht: Mit ihrem Roman "Aller Tage Abend" hat es die 45-Jährige auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis geschafft. Nein, Jenny Erpenbeck geht es um die wohl existenziellste aller Fragen: Was bleibt, nach so einem Leben, und überhaupt: Was wäre, wenn? Dieses Leben schon viel früher geendet hätte, sagen wir, kurz nach der Geburt?

"Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, hatte die Großmutter am Rand der Grube zu ihr gesagt. Aber das stimmte nicht, denn der Herr hatte viel mehr genommen, als da war - auch alles, was aus dem Kind hätte werden können, lag jetzt da unten und sollte unter die Erde." So beginnt dieser Roman in fünf Büchern und vier Intermezzi. In den Intermezzi wird der zuvor beschriebene Tod jeweils zurückgenommen, das Leben dann weitergelebt, aus dem acht Monate alten Säugling wird am Ende eine 90-jährige Frau. Und nach jedem Tod fragt man sich wieder, was ist jetzt eigentlich schlimmer? Dass ein Säugling stirbt (grausam) oder doch nicht, dass eine 17-Jährige Selbstmord begeht (schlimm) oder doch nicht, dass eine junge Kommunistin unter Stalin verraten wird (Schicksal) oder doch nicht, dass eine berühmte Schriftstellerin viel zu früh geht (wie tragisch) oder doch nicht, dass eine alte Frau umgeben von Kranken und Dementen lebensmüde wird (hoffentlich erlebe ich das nie) oder doch nicht? Dann wird eine einfache Geschichte plötzlich zu einer allumfassenden Frage.

Jenny Erpenbeck hat eine große Freude an der Wucht der Sprache, sie nutzt sie gekonnt. "Ihr Körper ist eine Stadt. Ihr Herz ein großer schattiger Platz, ihre Finger Passanten, ihre Haare das Licht von Laternen, ihre Knie zwei Häuserblöcke. Sie hat versucht, den Menschen Wege zu geben. Sie hat versucht, ihre Wangen und ihre Türme aufzumachen. Sie wusste nicht, dass die Straßen so wehtun. Sie wusste nicht, dass es so viele Straßen überhaupt bei ihr gibt. Sie will mit dem Körper aus dem Körper hinausgehen. Aber sie weiß nicht, wo der Schlüssel ist." So sitzt sie da, die fast 90-Jährige, in einem Heim in Ostberlin. Was für eine Beschreibung.

Jenny Erpenbeck liest am 17.9. auf dem Harbour Front Literaturfestival, "Cap San Diego", 21 Uhr

Jenny Erpenbeck: "Aller Tage Abend". Knaus, 288 Seiten, 19,99 €