Der jüdische Künstler arbeitete für einen SS-Mann. Ein Hamburger Filmemacher widmet Schulz eine Videoinstallation in den Phoenix-Hallen.

Hamburg. Nur langsam geben die vernarbten Wände dieses alten Hauses ihre Geschichte preis, eine Geschichte, die man eigentlich kaum glauben mag. Beklommen tritt man ein in diesen kleinen Raum mit niedriger Decke, aus dem sich der Blick auf die Küche eröffnet. Von draußen ist eine Toncollage zu hören, Klaviermusik von Chopin, dazu merkwürdige schabende Geräusche, die sich nicht recht identifizieren lassen. Dann zeigen sich unter den in Jahrzehnten immer wieder aufgetragenen Farbschichten Fragmente von Bildern, schließlich werden Motive erkennbar: Kinder, eine Königin, eine gebeugte alte Frau, ein Reiter, eine schwarze Katze, Schneewittchen und die sieben Zwerge. Szenen aus Grimms Märchen. Dann verschwinden sie wieder, wo eben noch Wandbilder zu sehen waren, klafft rohes Mauerwerk.

Noch bis zum 9. September kann man in der Sammlung Falckenberg in Harburg eine Videoinstallation von Benjamin Geissler sehen, die der Filmemacher "Die Bilderkammer des Bruno Schulz" genannt hat. Geisslers Kunstwerk macht die zerstörten Wandmalereien virtuell erlebbar, die der polnische Schriftsteller, Philosoph, und Maler Bruno Schulz 1942 unter fast unvorstellbaren Bedingungen geschaffen hat.

+++ Öffnungszeiten und Termine +++

Schulz ist vor allem als Schriftsteller bekannt, seine Werke sind in 30 Sprachen übersetzt worden und haben Autoren wie Isaac Bashevis Singer und John Updike angeregt. Geboren wurde er 1892 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in der galizischen Stadt Drohobycz, die heute zur Ukraine gehört.

Als die Deutsche Wehrmacht 1941 in Ostpolen einfällt und auch Drohobycz besetzt, ist Bruno Schulz 49 Jahre alt. Er hat sich nicht nur als Autor, sondern auch als bildender Künstler einen Namen gemacht. Um seine Familie ernähren zu können, muss er aber als Zeichenlehrer arbeiten. Er gerät in Lebensgefahr und wird im Getto interniert, doch bald nimmt sein Schicksal eine unerwartete Wendung. Zufällig wird der SS-Hauptscharführer Felix Landau auf den Künstler aufmerksam. Landau ist ein fanatischer Nationalsozialist, ein eiskalter Mörder, der von Zeit zu Zeit vom Balkon seines Hauses aus vorbeikommende Juden mit dem Gewehr erschießt. Aber er ist auch Kunstliebhaber, ein Feingeist, der das künstlerische Vermögen von Bruno Schulz sofort erkennt und außerordentlich schätzt. So schwer es sich vorstellen lässt, der SS-Mann empfindet tatsächlich Hochachtung vor dem jüdischen Künstler, dem er auch persönlich gewogen ist. So macht er ihn zu seinem "Leibjuden" und beauftragt ihn mit künstlerischen Arbeiten. In der Villa, die Landau beschlagnahmt hat, um sie mit seinen Kindern und der Geliebten zu bewohnen, soll Schulz für das Kinderzimmer Wandbilder mit Szenen aus Grimms Märchen malen.

Bruno Schulz malt um sein Leben. Er malte die gewünschten Märchenmotive, verleiht den guten und den bösen Personen jedoch eine Dimension, die Landau wohl nicht voll zu entschlüsseln vermag: Die verhärmte alte Frau trägt die Gesichtszüge seiner Mutter, in der Gestalt eines Kutschers hat er vermutlich ein Selbstporträt geschaffen, bei der Königin dürfte es sich um Gertrud Segel, Landaus mondäne Geliebte, handeln und bei dem Reiter um den Auftraggeber selbst. Felix Landau ist mit dem Resultat hochzufrieden. Freunde aus Warschau verschaffen Bruno Schulz Papiere, die ihn als Arier ausweisen. Am 19. November 1942 betritt er ein letztes Mal das Ghetto um seine Brotration abzuholen.

Dieser Donnerstag wird in Drohobycz später der "schwarze Donnerstag" genannt. Bruno Schulz glaubt, dass ihm dieser Tag die Rettung bringt, nur noch einmal will er ins Getto gehen, um beim Judenrat das ihm zustehende Kontingent Brot abzuholen. Plötzlich rücken SS-Leute an, sperren die Straßen des Gettos ab und eröffnen das Feuer wahllos auf alle Passanten. 265 Juden werden an diesem Tag ermordet und später in einem Massengrab verscharrt. Dass auch Bruno Schulz damals ums Leben kommt, steht fest, aber war er eines der Opfer dieser Erschießung?

Als Felix Landau, der nach Kriegsende zunächst untertauchen konnte, 1962 vor dem Schwurgericht Stuttgart als Kriegsverbrecher angeklagt wird, gibt er eine andere, noch perfidere Version zu Protokoll: Demnach hat der SS-Scharführer Karl Günther Bruno Schulz ermordet, um auf diese Weise Rache an Landau zu nehmen, der zuvor Günthers jüdischen Leibarzt erschossen hatte. "Landau hat meinen Juden getötet und ich seinen", soll er gesagt haben. Ob sich die Tat wirklich so ereignet hat, ist jedoch nicht sicher, da noch drei weitere SS-Leute behaupteten, Bruno Schulz getötet zu haben. Landau wird zu lebenslanger Haft verurteilt, 1973 jedoch begnadigt.

Bruno Schulz erlangte posthum mit Werken wie "Die Zimtläden" und "Das Sanatorium zur Sanduhr" literarischen Weltruhm und gilt heute als einer der wichtigsten polnisch-jüdischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Sein bildkünstlerisches Werk geriet dagegen weitgehend in Vergessenheit. Erst im Jahr 2001 gelingt es dem deutschen Filmemacher Benjamin Geissler gemeinsam mit seinem Vater, dem Schriftsteller Christian Geissler, die von Landau in Drohobycz konfiszierte Villa zu identifizieren und im ehemaligen Kinderzimmer die mehrfach übermalten Wandbilder zu entdecken. Dieser Fund sorgt weltweit für Aufsehen, mit Unterstützung der deutschen Botschaft in Kiew und des ukrainischen und polnischen Kulturministeriums beginnen Experten, die Wandbilder freizulegen.

Im Mai reisen Mitarbeiter der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem nach Drohobycz und entfernen ohne Wissen und Zustimmung der zuständigen ukrainischen Behörden in einer juristisch wie moralisch äußerst umstrittenen Aktion drei der Wandbilder und bringen sie nach Jerusalem. Sie sind jetzt im Yad Vashem ausgestellt, nach jahrelangem Rechtsstreit hat die israelische Seite jedoch anerkannt, dass es sich um ukrainisches Eigentum handelt, das sich nun als Leihgabe für 20 Jahre in Israel befindet. Die übrigen Fresken wurden inzwischen ebenfalls entfernt und restauriert, sie sind in Drohobycz in einem Museum zu sehen, das Bruno Schulz gewidmet ist.

"Die Geschichte von Bruno Schulz ließ Geissler nicht mehr los. Mit seiner groß angelegten begehbaren Videoinstallation rekonstruiert er das in seinem Zusammenhang zerstörte Kunstwerk und erweckt es damit zu neuem Leben", sagt der Kunstsammler Harald Falckenberg. Seine Ausstellungshalle in Harburg bildet den Auftakt zu einer langjährigen Tournee, auf der "Die Bildkammer des Bruno Schulz" anschließend u. a. in Luxemburg, Brüssel, Warschau, Krakau, Linz, New York und Lemberg zu erleben sein wird, bis sie schließlich ihr eigentliches Ziel erreicht: das ukrainische Drohobycz, jene Stadt, in der Bruno Schulz fast sein ganzes Leben verbracht hat.