Die Dokumentation “Innenansichten - Deutschland 1937“ von Filmemacher Michael Kloft ist atemberaubend und bestürzend zugleich

Berlin. Deutschland 1937. Die Olympischen Spiele sind Geschichte. Die Schilder, die das Regime vor einem Jahr kurzfristig abmontieren ließ, weil ihm daran lag, sein wahres Gesicht zu verbergen, hängen wieder: "Juden sind hier unerwünscht." Eine trügerische Ruhe liegt über dem Land. Das Regime hat angefangen, sich seine Gegner vorzuknöpfen. Die Zeitungsredaktionen sind angewiesen, nicht mehr über Thomas Mann zu berichten, der Philosoph Karl Jaspers hat seine Professur verloren, Pastor Martin Niemöller ist im Juli verhaftet worden.

Der amerikanische Soziologe William Du Bois, der in Berlin und Heidelberg studiert hat, kommt angeekelt zu dem Schluss, niemand, der an eine freie Debattenkultur gewöhnt sei, könne Deutschland jetzt noch ertragen. Der französische Schriftsteller Jean Genet wird später über seinen Berlin-Besuch schreiben: "Selbst Unter den Linden hatte ich das Gefühl, durch ein von Banditen angelegtes Lager zu spazieren."

Einer, der auch in Nazi-Deutschland unterwegs ist, ist der US-Amerikaner Julien Bryan. Ein 38 Jahre alter Dokumentarfilmer, der zu seiner eigenen Überraschung die Erlaubnis erhalten hat, im Dritten Reich zu drehen. Das Land wirkt erholt, die Arbeitslosenquote ist unter eine Million gesunken. Bryan bewegt sich zwischen Düsseldorf, München und Berlin. Er filmt in den Jenaer Zeiss-Werken, auf der Wartburg und in der Münchner Ausstellung "Entartete Kunst". Er beobachtet Menschen beim Kirchgang und sieht die auffällig vielen jungen Männer, die in Massensportveranstaltungen gestählt werden. Er befährt die neuen Autobahnen und erlebt Hitler auf dem Reichsparteitag in Nürnberg ...

Der Filmemacher Michael Kloft hat das komplette Filmmaterial jetzt in der Washingtoner Kongressbibliothek ausgegraben. Er hat aus den 38 Stunden ausgewählt und sein Extrakt mit anderen Originalaufnahmen der Zeit versetzt - unter anderem mit Bildern von der Weltausstellung in Paris und vom Mussolini-Besuch in Berlin und München. Das Resultat ist atemberaubend und bestürzend zugleich, denn es sind quasi die letzten Momentaufnahmen aus einem schönen, unzerstörten Land, doch über den Bildern des vermeintlichen bürgerlichen Glücks hängen schon die Schatten des kommenden Unheils. Überall gibt es kleine Hinweise darauf, dass hinter der ganzen Aufgeräumtheit irgendetwas nicht mehr stimmt: hier ein gepanzertes Flugzeug, dort eine mit dem "Stürmer" plakatierte Wand ...

Julien Bryan konnte nach seiner Rückkehr in die USA nur wenige Minuten des gedrehten Materials in der Wochenschau "March of Time" unterbringen, weil man sie dort nicht für spektakulär genug hielt. Er hat seine Aufnahmen deshalb 1938 unter dem Titel "Inside Germany" in die Kinos gebracht und auf seinen Vortragsreisen später gerne damit kokettiert, dass er die Filmrollen an der Zensur vorbei aus Nazi-Deutschland herausgeschmuggelt habe.

An diese Version glaubt Michael Kloft nicht. Bryan, davon ist der Leiter der Abteilung "History" bei Spiegel TV überzeugt, habe mit Sicherheit nur drehen dürfen, was vom Reichspropagandaministerium zuvor genehmigt worden sei. Und mit Sicherheit habe man dem Amerikaner auch ständige "Begleiter" zur Seite gestellt. "Ich denke, das war damals in Deutschland nicht viel anders als heute in Nordkorea."

Kloft hat seinen Film - eine Gemeinschaftsproduktion von Spiegel TV, Arte und dem Bayerischen Rundfunk - "Innenansichten - Deutschland 1937" genannt. Weil es zu den Aufnahmen keine Tonspur gibt und wohl auch nie gegeben hat, fügt Kloft neben Kommentaren von Julien Bryan (gesprochen von Matthias Brandt) auch Bemerkungen anderer Zeitgenossen ein. Zu Wort kommen unter anderem der damalige amerikanische Botschafter in Berlin, William Dodd, der Journalist William L. Shirer, der bereits erwähnte William Du Bois und auch Samuel Beckett, der Deutschland 1936/37 bereiste und darüber Tagebuch führte.

Julien Bryan, der 1974 starb, hat übrigens auch Polen bereist. Er war in Warschau, als im September 1939 der deutsche Überfall begann. Sein Kurzfilm "Siege" von 1940 wurde für den Oscar nominiert und 2006 als "einzigartiges, erschütterndes Dokument der grausamen Brutalität des Krieges" in das nationale amerikanische Filmregister aufgenommen.

"Innenansichten - Deutschland 1937", Dokumentarfilm, heute Arte 21.45 Uhr