Widerstand in allen Schattierungen beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel

Hamburg. Wir leben im Zeitalter des Wutbürgers. Protestieren ist angesagt. Gründe gibt es genug. Der Widerstand, er muss nicht immer als lautstarke Demonstration daherkommen. Ausgesprochen tiefenentspannt, gleichwohl hungrig, machen sich sieben "Wut"-Schweine vom Tierpark Arche Warder am Sonnabend beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel über die Bodeninstallation von Santiago Sierra her.

Während die Besucher sich vor dem Happening fotografieren und noch rätseln, wo denn jetzt hier auf dem Boden eigentlich genau Athen liege, verwandelt sich die aus Tierfutter errichtete griechische Halbinsel in ein zertrampeltes Bermudadreieck. Die Euro-Zone tierisch versaut - künstlerisch auf jeden Fall ein Hingucker. Und mancher Großstädter bekommt nebenbei eine Lehrstunde in seltenen Nutztierrassen (ein Angler Sattelschwein, drei Albrecht-Dürer-Schweine, drei Turopolje-Schweine).

Den Aufstand probieren auch die Alten in "Melancholie und Protest" der argentinischen Theatermacherin Lola Arias. Irgendwann wollen sich die vier Akteure nicht mehr mit der Rolle von Statisten begnügen. Sie wenden sich direkt ans Publikum, reden selbstbewusst über ihre Gebrechen, Sehnsüchte und den Wunsch, ernst genommen zu werden. Sie haben es satt, sich bevormunden zu lassen und für ihr Immer-noch-am-Leben-Sein rechtfertigen zu müssen. "Dass ihr nicht merkt, dass ihr alle auch einmal so sein werdet." Um das zu unterstreichen, ziehen sie sich aus und zeigen ihre gebrechlichen Körper. Mit seinem Mut und Zorn erobert das charmante Quartett das Publikum im Sturm. Zuvor hat es als Spielpartner und Bühnenarbeiter im berührenden und humorvollen szenischen Porträt von Arias' Mutter "gedient". Die Literaturprofessorin verfiel nach der Geburt ihrer zweiten Tochter in eine schwere Depression und beging Selbstmord.

Die argentinische Regisseurin blättert sich durch ihr Leben wie durch Kapitel eines Buches, sucht nach Erklärungen, auch in der Zeitgeschichte. Denn in Arias' Geburtsjahr 1976 begann die Herrschaft der Militärregierung - und der Widerstand gegen die Diktatur. Er setzt sich im Senioren-Protest am Schluss fort, gibt dem biografischen Bildertheater aus dicht gewebten Querverbindungen zwischen Film und Theater, Bericht und Spiel, Vergangenheit und Gegenwart eine überraschende Wendung vom individuellen Schicksal ins Kollektive einer von der Gesellschaft an den Rand geschobenen Gruppe. Immerhin haben die "Alten" mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag zu deren Gedeihen und Fortbestand geleistet.

Der mal leise gegrunzte, mal lautstarke Widerstand, er findet Widerhall in sehr unterschiedlichen Konzertformaten. Bei US-Songwriter Damien Jurado wagt mancher im Klub noch nicht einmal ein Bier zu ordern, so dicht ist die Stille, durchzogen von den feinen Melancholie-Fäden, die der Sänger zur Akustikgitarre mit seinen wunderbaren poetischen Miniaturen verbreitet. Dann passiert es doch. Gläser klirren. Flaschen gehen zu Bruch. Jurado aber singt stur seinen Stiefel, etwa "Nothing Is The News" von seinem Album "Maraqopa". "Glaubt bitte nicht, dass mein Leben so traurig ist wie meine Lieder", sagt er.

Anders als der bescheidende Jurado greift Tonia Reeh beherzt in die Tasten und unverhohlen nach Höherem. Mit ihrem expressiven Spiel eifert sie Tori Amos nach, doch ihrem Wut-Gesang ("Hate Entertainment") haftet häufig zerquältes Pathos an. Aufgebrochen wird das in jenen Momenten, in denen Reeh von der eher einem kritischen Elektronik-Pop zugeneigten Barbara Morgenstern flankiert wird. Zwei Künstlerinnen, die auf höchst unterschiedlichen Klaviaturen spielen. Ein lebender musikalischer Widerspruch, dessen Spannungsreichtum nicht automatisch in Hörgenuss mündet.

Das war es noch lange nicht mit dem Protest beim diesjährigen Sommerfestival. Ob laut oder leise. Hauptsache, er findet Gehör.

Internationales Sommerfestival Hamburg 2012 Irié Revoltés Di 14.8., 21.00, Rimini Protokoll: "Prometheus in Athen" Do 16.8., 21.00, jeweils auf Kampnagel, Karten unter T. 27 09 49 49. Schwabinggrad Ballett: "Stop Saving Us", Do 16.8., 22.30, Platz der unbilligen Lösungen, Parc Fiction, St. Pauli, Eintritt frei