Die großartige China National Peking Opera Company gastierte im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals im Thalia-Theater.

Hamburg. In der Pause lief ich einer Bekannten aus China über den Weg. Sie ist mit einem Deutschen verheiratet und geht oft in klassische Konzerte, meist mit ihrem Mann. Beim Gastspiel der Peking-Oper am Donnerstag im Thalia-Theater aber war sie allein. Krank, der Gatte? Nein, sagte die Dame. Er habe sie einmal in Peking in die Peking-Oper begleitet. Seither brächten ihn keine zehn Pferde mehr da rein.

Neben mir saß eine sehr klassikverliebte junge Frau. Es bedurfte etwas Überredungskunst, sie zum Bleiben im zweiten Teil zu bewegen. Ein Kritikerkollege hatte es manchen anderen Theatergästen gleichgetan und sich nach der Pause in Luft aufgelöst.

+++ Peking-Oper zu Gast: Im Wald der wilden Schweine +++

Dafür blieben Bürgermeister Olaf Scholz und der Schleswig-Holsteinische Ministerpräsident Torsten Albig bis zum tosenden Schlussapplaus in ihren Rasiersitzen in der ersten Reihe. Schließlich war das Gastspiel der China National Peking Opera Company in Hamburg als einer der Höhepunkte des diesjährigen Schleswig-Holstein Musik Festivals (SHMF) annonciert, Stunden zuvor hatten die beiden Staatsmänner im Rathaus die "China Time Hamburg" eröffnet. Ich denke, schon um nicht in die Verlegenheit zu kommen, im Theater von den Schauspielern beim Sekundenschlaf oder beim SMS-Lesen gesehen zu werden, will man nie im Leben mit einem Spitzenpolitiker tauschen.

Der chinesische Konsul sagte einem befreundeten Paar in der Pause, er vermisse die lautstarken Kommentare und den Zwischenbeifall, mit dem ein chinesisches Publikum die Peking-Oper begleitet. Tatsächlich verfolgte das ausverkaufte Thalia die Darbietung aus Fernost auffallend still. Es gab ein paar Lacher. Allgemeine Heiterkeit kam nur auf, als sich die einzeilige LED-Übertitelungsanlage kurz verselbstständigte und Textfetzen ohne Bezug zum Bühnengeschehen übers Band flitzten.

"Der Wald der wilden Schweine" stand als Titel des Stücks im Programmheft. Die Chinesen schenkten sich die Poesie und übersetzten das Werk mit "Im Wildschweinwald", Peking-Opern heißen nach dem Ort, in dem sie hauptsächlich spielen. Am Anfang sah es so aus, als würden die Menschen auch die Schweine spielen, denn es traten drei schweinsnasige Männer auf, die, das merkte man bald, nichts Gutes im Schilde führten.

Der am prächtigsten Kostümierte unter ihnen war ein Geilinski (Zheng Yan), der sich im Wissen um seine Unangreifbarkeit als Sohn des Präfekten an die Frau (Li Shengsu) des Instrukteurs des Heeres (Yu Kuizhi) ranmachte und auch im weiteren Verlauf des Stücks nicht von ihr ablassen wollte, obwohl die Eheleute sich das energetisch verbaten. Dem Instrukteur kam ein fülliger Mönch (Yang Chi) mit Bärenkräften zu Hilfe, der vorher bewiesen hatte, dass man, um ein Krähennest auf einem Baum auszuheben, am besten gleich den ganzen Baum ausreißt. Mächtige Väter mit langen, feinen Bärten kamen vor, eine Trippelschritte machende Zofe, Soldateska mit grimmigen Blicken und ein paar Handlanger für ein böses Ränkespiel. Es war alles allerliebst anzusehen, wie ein Kindertheater von Erwachsenen für Erwachsene.

Was die Darsteller können müssen, welches Regelwerk der Peking-Oper zugrunde liegt und warum sie so ganz anders ist als die abendländische, hatte vor der Vorstellung Hans-Georg Knopp erläutert, ein ausgewiesener Kenner außereuropäischer Kulturen. Er beschrieb einige der unzähligen Codes und Symbole, die das chinesische Publikum (noch) alle kennt und versteht - etwa das Gehen im Kreis, das Hochrollen und Auswerfen der zwangsjackenhaft langen Ärmel, das Zittern der Kopfbedeckungen und der Hände, das Niederfallen beim Singen. Es war, als bekäme man von Knopp ein Alphabet in die Hand, doch gleich loslesen damit erwies sich als schwierig. Ausgestattet mit einem Maximum an Assimilationsbereitschaft gegenüber dieser fremden Kultur, sah sich mancher dann doch unverhofft tief hineingesogen ins Geschehen.

Der scharfe, gepresste, überwiegend hohe Gesang, meist begleitet von einem Blas-, einem Streich- und einem Zupfinstrument, schnitt manchem Belcanto-Genießer ins Trommelfell. Doch vor allem die lange Arie des Instrukteurs im zweiten Teil, die sich lerchengleich über das kurze, jämmerliche Gequäke des Unholds erhob, entfaltete einen ungeahnten Zauber. Dass da kein Zwischenapplaus kam, war wohl nur die Folge kultureller Unsicherheit.

Von den vielen Gongschlägen konnte einem schwindlig werden. Auch das ausdauernde Geklapper der Trommel, von dem Experte Knopp sagte, sie sei das spielentscheidende musikalische Element in der Peking-Oper, vergleichbar dem Dirigenten, strengte an. Doch dieses Gastspiel bewies: Peking-Oper, zumindest so behutsam modernisiert wie diese hier, ist viel toller als gedacht. Klar, total gekünstelt, ritualisiert und unpersönlich, aber deshalb maßlos verdichtet und lupenrein in ihrer Energie. Man könnte sich glatt in sie verlieben.