Eine Bildbetrachtung von Matthias Gretzschel

Als ich ungefähr sechs Jahre alt war, zeigte mein Vater mir die Dresdner Gemäldegalerie. Lange blieben wir vor der "Schlummernden Venus" von Giorgione stehen, was mich ziemlich aus der Fassung brachte, weil es die erste nackte Frau war, die ich jemals gesehen habe. "Das ist ganz große Kunst", sagte mein Vater, und das wunderte mich sehr, denn er war evangelischer Pfarrer und hielt nackte Frauen in der Öffentlichkeit eigentlich für sündig. Aber wenn es sich um ganz große Kunst handelt, lagen die Dinge offenbar anders.

Das ist lange her, kam mir jetzt aber wieder in den Sinn, als ich von dem Picasso-Poster las, das auf dem Flughafen von Edinburgh diese Woche abgehängt wurde, weil es eine Nackte zeigt und sich Passagiere darüber beschwert hatten. Das Plakat mit dem Picasso-Gemälde "Nackte Frau im roten Sessel" warb für die vergangene Woche in der Schottischen Nationalgalerie eröffneten Ausstellung "Picasso & Modern British Art".

Warum also die Aufregung? Haben wir es hier vielleicht mit einem typisch angelsächsischen Problem zu tun? Just in Picassos Sterbejahr 1973 wurde auf der Insel eine Komödie mit dem schönen Titel "No Sex Please: We're British" gedreht. Am Ende zeigte die Flughafenleitung dann aber ein Einsehen und hängte das Plakat mit der Nackten wieder auf. Daran hätte selbst mein Vater nichts auszusetzen, denn dass Picasso ganz große Kunst ist, steht außer Frage.