“Im Herzen“, sagt einer der größten Dirigenten unserer Zeit. Im Moment probt Christoph Eschenbach in Hamburg, wo er 23 Jahre gewohnt hat.

Hamburg. Es scheint wie eine Heimkehr, immer wieder, wenn Christoph Eschenbach, einer der berühmtesten Dirigenten unserer Zeit, wie jetzt für Proben oder Konzerte nach Hamburg kommt. Und doch ist es nie eine wirkliche Heimkehr. 23 Jahre seines Lebens hat er hier gewohnt, in Harvestehude, schön nah an der Außenalster. Später gab er sechs Jahre lang, ohne festen Wohnsitz, er wohnte lieber im Hotel, als Chefdirigent des NDR Sinfonieorchesters dem Hamburger Musikleben spürbare Impulse. Als der von Adoptiveltern nach dem Krieg in Norddeutschland erzogene Waisenjunge aus Breslau elf Jahre alt war, gewann er in Hamburg beim Steinway-Wettbewerb seinen ersten Preis. Die Meistermacherin Eliza Hansen unterrichtete ihn hier am Klavier, sein Debüt als Dirigent gab er vor 40 Jahren in Hamburg. Hamburg, Hamburg, Hamburg. Heimkehr aber, diese seltsam romantische Bewegung, betreibt Christoph Eschenbach an nahezu jedem Ort der Erde und wann immer es ihm beliebt. Sein Heimatgefühl ist an keine Stadt gebunden, an keine Landschaft, nicht einmal an einen unverwechselbaren Geruch. "Mein Zentrum", sagt er und tippt sich aufs Herz, "ist in mir. Da wohne ich."

Vor drei Tagen erst war Christoph Eschenbach, der ruhelos Zentrierte, mit dem Schleswig-Holstein-Festival-Orchester in Salzburg, jetzt am Sonntag ist er schon wieder dort, um das erstaunlich späte Debüt des NDR Sinfonieorchesters bei den Salzburger Festspielen zu leiten, ein Konzert in der Felsenreitschule. Dasselbe ambitionierte Programm ist morgen beim SHMF im Kieler Schloss zu erleben. Ein Heimspiel im doppelten Sinne: Das Stück, das das Hausorchester des SHMF im zweiten Teil des Abends spielt, erlebte 1972 unter Hans Zender in Kiel seine Uraufführung: "Ich wandte mich um und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne" von Bernd Alois Zimmermann, etwas bekannter ist sein Untertitel "Ekklesiastische Aktion".

Eschenbach nennt das Werk "sehr wichtig, aufreibend". Sein Gewicht erhält es nicht nur durch den Umstand, dass es das letzte ist, das Zimmermann vor seinem Freitod am 10. August 1970 vollendete. "Es handelt vom Missbrauch der Macht und von der Reinheit der spirituellen Macht", sagt Eschenbach, der als Dirigent mit dem Herzen als einziger Heimat weiß, was beides ist, Macht und Spiritualität. Der Komposition liegt ein Text aus dem "Großinquisitor" von Dostojewski zugrunde, einem eigenständig lesbaren Kapitel aus dem Roman "Die Brüder Karamasow". "Der Großinquisitor betreibt die Hinrichtung Jesu, weil er Wunder vollbringt. Die Kirche hat alle Macht an sich gerissen und will nicht mehr gestört werden von ihren christlichen Ursprüngen", referiert Eschenbach, der, angeregt von den anstehenden beiden Konzerten, nicht nur aufs Neue den "Großinquisitor" gelesen hat, sondern zum wiederholten Mal gleich den kompletten Roman. "Es gibt bei Zimmermann zwei Sprecher und einen Sänger, der die Leidensfigur kommentiert. Ein sparsames, aber großes Orchester umrahmt das Geschehen, dazu sind drei Posaunisten im Raum verteilt. Es ist kein Oratorium, keine Oper, doch die beiden Sprecher agieren auch szenisch. Die 'Ekklesiastische Aktion' bildet eine eigenständige Form." Die Besetzung ist ganz nach Eschenbachs Geschmack. Matthias Goerne, für ihn "der beste Bariton auf der Welt", übernimmt die Partie des Sängers, der Regie-Titan Peter Stein und der Schauspieler Ullrich Matthes sind die Sprecher.

Der Zufall oder der Zeitgeist oder auch beide wollen, dass das NDR Sinfonieorchester seine Saisoneröffnung im September unter Thomas Hengelbrock ebenfalls mit Zimmermanns Spätwerk krönt. Hat Christoph Eschenbach bei seinem ehemaligen Orchester Spuren des Wirkens seines Nach-Nachfolgers gefunden? Spielen die NDR-Sinfoniker anders, offener, eher bereit zur Mitwirkung als früher? "Nein", sagt Eschenbach. "Da achte ich gar nicht drauf. Wir haben immer sehr gut zusammen musiziert. Das Orchester ist sehr eingespielt auf meine Partiturarbeit." Tatsächlich gehört Christoph Eschenbach wie der drei Jahre jüngere Jeffrey Tate zur ersten Generation von Dirigenten, die sich bewusst nicht mehr als Diktatoren am Pult gerierten, sondern das Orchester als Partner begriffen. "Auch deshalb sind die Orchester so viel besser geworden als früher", sagt Eschenbach. "Ich habe schon immer sehr gern in meine Interpretation aufgenommen, was mir einzelne Musiker an Details anbieten."

Aber natürlich hat der schmale und nicht eben hoch gewachsene Dirigent mit der starken Ausstrahlung, der noch mit einem eruptiven Kopfrucken klangliche Akzente aus dem Orchester herausholt, eine präzise Vorstellung vom Klang, zu dem die Partitur erst werden muss. "Reinschleichen", sagt er etwa bei der Probe zum "Präludium", dem ersten der "Drei Orchesterstücke op. 6" von Alban Berg, mit denen die Konzerte beginnen, in die ersten Geigen hinein. "Sie können in Takt 13 auf der Zwei mehr Crescendo machen", lässt er die Trompeter beim "Reigen" wissen. Eschenbach hat eine etwas raunende Sprechweise; er sagt nicht viel, aber er legt in alles Gewicht. "Mit mir weg", mahnt er die Trompetengruppe, die im letzten Takt nicht ganz seiner Zeichengebung folgte. Und als der Solotrompeter Jeroen Berwaerts fragt: "Soll das bei 75 Flatterzunge sein oder Staccato?", überlegt Eschenbach kurz. "Flatterzunge, würde ich vorschlagen. Drrrr. Drrrr."

Was seiner Probenarbeit vorausgeht, nennt Eschenbach etwas orakelhaft "die Partitur befragen, hinter die Noten schauen. Daraus, aus dem Kontext, entwickelt sich der Atem, die Phrasierung, die Klangrede. Die Farbe." Wachsen nach 40 Jahren Erfahrung im Partiturbefragen die Gewissheiten oder die Fragen? "Die Gewissheit nimmt zu", sagt Eschenbach. "Das liegt vielleicht auch an den Partituren, die ich aussuche, hinter denen ich stehe und die ich zu hundert Prozent liebe."

Dass in diesem weltabgewandt, fast mönchisch wirkenden Künstler ein Ekstatiker des Augenblicks lebt, der beim Dirigieren das Glück für sich selbst und für andere zur Gegenwartserfahrung machen kann, haben schon viele Konzertgänger erlebt. Als Antichambrierer und Fundraiser, der mit Millionären und ihren Gattinnen diniert und ihnen die richtigen Briefe schreibt, um ihr Geld für Kunst locker zu machen, kann man ihn sich nur schwer vorstellen. Doch als Chefdirigent des National Symphony Orchestra in Washington, das er in zwei Jahren vom Mittelmaß zu achtbarer Qualität gesteigert hat, übt sich Eschenbach auch in dieser modernen Kulturtechnik. "Es macht mir Spaß", sagt er mit minimalem Zögern, weil ihm nicht sofort einfällt, weshalb es ihm Spaß machen sollte. "Weil es für das Orchester ist", setzt er dann hinterher. Und, natürlich, weil in Washington ein intellektuelles Klima herrscht.

In Washington hat Eschenbach seinen Hauptwohnsitz, die Zweitwohnung in Paris, wo er jahrelang als Chef des Orchestre de Paris wirkte, sieht er kaum noch. Hamburg windet er lange Kränze an Komplimenten, das Luftschloss Elbphilharmonie entlockt seinen dunklen, unergründlichen Augen ein Leuchten. Ist hier seine Heimat, vielleicht ja doch? "Nein. Aber ich bin sehr, sehr gern hier."

Konzert morgen, Kieler Schloss, 20 Uhr, Karten zwischen 17 und 58 Euro unter T. 0431-23 70 70