Boris Charmatz' virtuose Tanzinstallation “Levée des conflits“ eröffnet am 9. August das Sommerfestival

Kampnagel. Die Tänzerin betritt die Bühne, wischt mit der Hand über den Boden, rollt mit dem ganzen Körper, springt auf und rudert mit den Armen. Andere Tänzerinnen und Tänzer gesellen sich hinzu. Bewegungen werden weitergetragen. Körper verschmelzen zu einem sich stetig wandelnden Gebilde, einer lebendigen Plastik. "Levée des conflits" (Die Auflösung der Konflikte) lautet der Titel des physischen Abenteuers von Boris Charmatz und der Tänzer seines Musée de la danse in Rennes, das als deutsche Erstaufführung morgen das Internationale Sommerfestival Hamburg 2012 auf Kampnagel eröffnen wird.

Ein Abend wie ein Sog, dem sich der Zuschauer nicht entziehen kann. Virtuos. Mitreißend. Voller Energie. Ein Fest für die Sinne und den Geist. Es ist die Mischung aus diesen wundervollen 24 sich völlig verausgabenden, wie in Trance agierenden Tänzern in exakt abgestimmtem Licht vor dem Hintergrund einer hypnotisierenden Musik aus Hip-Hop und Jazz von Morton Feldman, Helmut Lachenmann oder Henry Cowell. Jede Regung eröffnet Raum für Fantasie, Assoziationen, eigene Denkflächen. Am Ende bleibt das wohlige Gefühl, dass sich hier auf wundersame Weise das Verhedderte entwirrt hat. Der Raum sich lichtet. Der Himmel sich weitet. Ja, manchmal tut er das auch tatsächlich, denn Charmatz führt "Levée des conflits" nicht nur in Hallen, sondern auch sehr erfolgreich open air auf Rasenflächen auf.

Im vergangenen Jahr lieferte der gefeierte französische Choreograf mit "Enfant" die Entdeckung des Sommerfestivals. Die Inszenierung, eine Koproduktion mit dem Festival d'Avignon, tourt weiterhin erfolgreich, die Vorstellungen bei der Ruhrtriennale etwa sind ausverkauft. Bereits die zeitlich früher entstandene Arbeit "Levée des conflits" belegt eindrucksvoll, dass Charmatz einer der aufregendsten Vordenker des europäischen Tanzes ist. Die unbedingte Liebe zum Experiment verbindet sich bei dem 39-Jährigen mit einem profunden Wissen um den historischen Kontext, die Tatsache, dass seit den 1960er-Jahren in der Nachfolge Merce Cunninghams der Tanz eine Revolution durchlaufen hat und über ein neues Bewegungsrepertoire verfügt. Kein Wunder, dass sich die Festivals nur so um ihn reißen.

Anders als "Enfant" kreiert "Levée des conflits" keine zumindest teilweise narrativen Bilder, sondern arbeitet mit größtmöglicher Offenheit. Gleichwohl mit einem fest gefügten Repertoire aus Fortgang und Stillstand. Und mit der Macht der Wiederholung. Aus dem Bewegungslabyrinth kristallisieren sich Soli heraus, münden in Ensemblefolgen, eine soziale Morphologie. Minimalistisch und überbordend zugleich. Was der Besucher kaum wahrnimmt, geschweige denn auflösen kann: Jeder der 24 Tänzer ist eingebettet in die Bewegung des Tänzers vor und nach ihm. 25 Bewegungen spielen sich gleich einem simultanen Mosaik vor den Augen des Zuschauers ab, in jeder Runde wird eine ausgelassen. Charmatz nennt sie "ein Loch in der Choreografie". Vergleichbar der "Reise nach Jerusalem", in der es immer einen Stuhl zu wenig gibt.

Es ist dieses Spiel mit Leerstellen, mit einem Fließen an Zuständen, das diese Arbeit auszeichnet. Aus dem Material, den Zeichen des Körpers formt der Konzeptchoreograf Charmatz eine vibrierende Skulptur. Ihr wohnt etwas Meditatives inne. Sie ist ohne die Physis nicht existent. Die Körper, sie sind wie der Neutronenstrom, den der Strukturalist Roland Barthes einst beschrieb.

Charmatz projiziert diese Fragen auf unterschiedliche Auffassungen von Tanz. Wie überträgt sich Energie, wie funktioniert Manipulation, wie Schwerelosigkeit? Seine Arbeiten sind Denkbewegungen im öffentlichen Raum. Auch solche zu den scheinbar fest gefügten Rollen des Künstlers und des Publikums.

Charmatz ist ein radikaler, dabei aber sanfter Erneuerer des Tanzes. Klassisch ausgebildet an der Ballettschule der Pariser Oper und am Konservatorium in Lyon, hegte er eine frühe Liebe zur Tanzkunst von Merce Cunningham. Er begann als Tänzer für Meg Stuart und Régine Chopinot. Improvisierte mit Musikern wie Saul Williams oder Archie Shepp. Häufig sind seine Arbeiten von visuellen Künstlern inspiriert. Seit Januar 2009 ist er Direktor des Centre choréographique national de Rennes et de Bretagne, das er in Musée de la danse umtaufte. Ein Haus der Bewegung. Kein Widerspruch für einen Querdenker wie Boris Charmatz.

So, wie die Choreografie begonnen hat, verebbt sie langsam wieder. Bis die erste Tänzerin das Feld wieder verlässt. Zurück bleibt Stille. Und ein rarer, göttlicher Augenblick der Harmonie.

Boris Charmatz/Musée de la danse: "Levée des conflits" 9.-11.8., jew. 21.00, Kampnagel (Bus 172, 173), Jarrestraße 20-24, Karten unter T. 27 09 49 49; Internationales Sommerfestival Hamburg 2012 bis 25.8.; www.kampnagel.de