Praller Stoff, gute Schauspieler - trotzdem scheitert Dieter Wedel mit der Neuinszenierung von “Das Vermögen des Herrn Süß“ in Worms

Worms. Zwei tödlich endende Vergewaltigungen, ein Giftmord und eine Hinrichtung am Galgen - dem Publikum wird einiges zugemutet in dieser lauen Sommernacht vor der märchenhaften Kulisse des Wormser Doms. Und als nach fast drei Stunden laute Neonazi-Hassgesänge aus den Lautsprechern dröhnen und das Stück mit dem Satz "Es ist nicht vorbei" zu Ende geht, ist die Benommenheit der Zuschauer mit Händen zu greifen. Der gemessene Premierenapplaus will trotz aller Bühnentricks nicht zum Beifallssturm werden.

Wie sollte man auch jubeln, wenn zum Schluss der erhobene Zeigefinger der Bundeszentrale für politische Bildung die Theaterstimmung in die Minusgrade schickt? Freilichttheater, Sommer, am Himmel glitzern die Sterne, ein praller historischer Stoff, gute Schauspieler, routinierte Technik - eigentlich kann da nichts schiefgehen. Man sollte nur vermeiden, ein solches Sommertheater zu überfrachten mit Botschaften, mit politischer Pädagogik und mit Gegenwartsbezügen.

Diesen Fehler hat Intendant und Regisseur Dieter Wedel bei den diesjährigen Nibelungenfestspielen gemacht. Zum zweiten Mal bringt er den Jud-Süß-Stoff auf die Bühne. Gab es im vergangenen Jahr die Geschichte des Joseph Süß Oppenheimer, der als Berater des Herzogs Karl Alexander von Württemberg eine steile Karriere machte und nach dessen Tod Opfer eines antisemitischen Justizmordes wurde, als krachendes Barocktheater mit Robenrauschen und Kotzdonner-Gebrüll, so hat er nun denselben Stoff in die 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts verlegt.

Monatelang hat die PR-Maschine getrommelt: Völlig neu sei der Stoff bearbeitet, Wedel und sein Koautor Joshua Sobol hätten scharf herausgehoben, was die Geschichte aus dem 18. Jahrhundert mit der heutigen Krisenerfahrung verbinde. Zugespitzte Ansagen also zum Euro, zum Reformstau, zum rechten Sumpf, ein spannender Politthriller - das war das eine Werbeversprechen.

Die Aussicht auf viel nackte Haut das andere. Leider thrillert "Das Vermögen des Herrn Süß" weder politisch noch erotisch. Das Stück ist auf eine fast bestürzende Weise bieder und keucht dramaturgisch vor Anstrengung, weil es den selbst gestellten politischen Aufklärungsauftrag permanent und penetrant vor sich her trägt und gleichzeitig farbiges, aktionsreiches, spannendes Unterhaltungstheater sein will.

Wedel ist beim Aktualisieren nicht radikal genug, weswegen sich der Eindruck ergibt, dass Text- und Bildebene nicht zueinanderpassen. Er hat seinen Figuren modernere Kostüme angezogen, in ihrem Sprechen und Handeln aber belässt er sie in der ständischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Literarischen Klassikern kann man neue Interpretationsfacetten abgewinnen, wenn man sie in Gegenwartsgewänder steckt.

Doch der Wormser Fall ist völlig anders gelagert. Wedel und Sobol greifen zwar auf Vorlagen von Lion Feuchtwanger und Paul Kornfeld zurück, doch sie verfertigten daraus ihr eigenes Stück und wären also völlig frei gewesen, auch den Text in die 30er-Jahre zu transponieren. Stattdessen muss der Herzog - böse jovial gegeben von Walter Plathe - in seinem weißen Streifenanzug immer noch sagen: "Kotzdonner, verschafft mir dieses Weib."

Als politisches Theater ist "Das Vermögen des Herrn Süß" also arg verschwitzt und so gar nicht der Stoff für eine lange Freilicht-Sommernacht vor einer Kulisse, die selbst so viel theatralische Qualität zu bieten hat, dass das Theater sich ohnehin anstrengen muss, dagegen anzukommen. In dieser Hinsicht allerdings ist die Inszenierung Wedels vor dem Wormser Dom eine bemerkenswerte Leistung. Man muss sich vor Augen führen, dass die Schauspieler auf einer riesigen Bühne zwischen romanischer Sakralarchitektur und einer furchterregend steil aufragenden, 1200 Plätze bietenden Zuschauertribüne agieren müssen. Das ist kein Kammerspiel, da führt subtile Mimik nicht zur psychologischen Wahrheit der Figuren. Man darf dem Wormser Ensemble bescheinigen, dass es dieser Herausforderung gerecht wird. Walter Plathe braucht zwar eine Weile, bis er seine Betriebstemperatur erreicht hat.

Doch dann gewinnt er seinem Herzog mehr ab als nur den monoton polternden Machtmenschen. Tom Quaas löst die Aufgabe souverän, den Hofjuden Süß aller antisemitisch-dämonisierenden Klischees zu entkleiden, ohne ihn zum Sympathieträger oder gar zur aufklärerischen Lichtgestalt zu machen. Eine glänzende Vorstellung geben auch Dieter Laser als zynischer General Speckenschwardt und Roland Renner als Freiherr von Remchingen. Qualvolle Minuten lang wird Renner Ohrenzeuge der tödlichen Vergewaltigung seiner Tochter durch den Herzog. Fast ohne Worte zeigt er, was in dem Mann vorgehen muss.

2013 wollen die Nibelungenfestspiele mit Hebbel wieder zu ihrem Urstoff zurückkehren. Ob Wedel seinen Zehnjahresvertrag verlängert, ist offen. In jedem Fall sollte Worms sich auf seinen thematischen Fokus besinnen.