An der Ostsee eroberten sich Frauen neue Freiheiten. 1919 gründeten sie den Hiddensoer Künstlerinnenbund. Jetzt wird er wiederentdeckt.

Gerhart Hauptmann war nicht amüsiert. Schon seit 22 Jahren besuchte er die Insel Hiddensee, liebte ihre Ruhe und Abgeschiedenheit. Und nun strömte immer mehr Boheme herbei, sogar Künstler innen ! "Hiddensoe. Es ist ein ekelhaft bekrochenes Eiland geworden", schrieb der Dramatiker in sein Tagebuch. "Ein dickes Weib hat eine Villa errichtet und malt frech vor der Tür mit zwei Centnern am Leibe. Fürchterlich."

Gemeint war Henni Lehmann, die mit ihrer Familie seit 1907 in Vitte auf Hiddensoe - damals die amtliche Schreibweise - Urlaub machte und sich dort ein Sommerhaus bauen ließ. Henni Lehmann wollte dort eigentlich dasselbe wie Hauptmann: sich erholen, Freunde treffen, sich von der Natur zur Arbeit inspirieren lassen. Hauptmann schrieb - sie malte.

+++ Vortrag und Lektüre +++

Zu seinem Verdruss blieb es nicht bei dem "dicken Weib". Eine ganze Reihe von Künstlerinnen sammelte sich auf der Insel: Elisabeth Andrae aus Dresden, Käthe Loewenthal, Klara Arnheim und Julie Wolfthorn aus Berlin, die Stralsunderinnen Katharina Bamberg und Elisabeth Büchsel und noch mehrere andere. Sie alle engagierten sich 1919 im Hiddensoer Künstlerinnenbund, gegründet auf Initiative Henni Lehmanns. Es war der einzige Zusammenschluss von Malerinnen, die an einem so abgelegenen Ort zusammen arbeiten und ausstellen wollten. Sie trugen damit maßgeblich zu Hiddensees Ruf als Künstlerkolonie bei, ohne dass alle von ihnen ganzjährig dort lebten.

Die Geschichte dieses Künstlerinnenbundes und seiner Mitglieder wird erst seit wenigen Jahren wieder aufgearbeitet, nachdem zwei Weltkriege und die deutsche Teilung sie verschüttet hatten. Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Angela Rapp und die Hiddenseer Autorin Marion Magas haben den Schicksalen der Künstlerinnen nachgespürt und zeigen in zwei neuen Veröffentlichungen, wie unterschiedlich sie arbeiteten. Künstlerkolonien waren zwar ein europäisches Phänomen, sagt Angela Rapp, "aber ein Künstlerinnenbund wie dieser war in Europa einzigartig". Noch heute hängt diesen Künstlerinnen das Etikett "Malweiber" an. Das, findet Rapp, ist eine "Ironie der Geschichte".

Seit Jane Austens Zeiten war es en vogue, dass höhere Töchter malen oder Klavier spielen lernten, um die häusliche Atmosphäre durch mehr oder weniger gelungene künstlerische Beiträge zu verschönen. Aber bitte nicht als Beruf! Erst 1919, im Gründungsjahr des Hiddensoer Künstlerinnenbundes, wurden Frauen in Deutschland zum Studium an den Kunstakademien zugelassen. Bis dahin mussten sie sich mit privaten Kunstschulen oder sogenannten "Damenklassen" begnügen. Ein endloser Zug malender Frauen strömte in die Schulen, ohne dass eine systematische Ausbildung, Bewertung und Förderung stattfand.

Alle der Hiddenseer Malerinnen hatten ihr Handwerk noch in Privatstunden oder in den Mal- und Zeichenkursen gelernt, die zum Beispiel der "Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin" anbot. Oder in Paris, wo Malschulen für Frauen zum lukrativen Geschäft geworden waren: Sogar Auguste Rodin gründete eine Schule, in der die Tarife für Frauen doppelt so hoch waren wie für männliche Malschüler. Allerdings hatten die Hiddenseer Malerinnen eins gemeinsam: Durchhaltevermögen und echtes Talent. Sie gehörten nicht zu den "Malweibern" oder "Stillleben-Dilettantinnen", die im "Simplicissimus" verlacht wurden. Klara Arnheim etwa hatte Privatstunden bei dem Berliner Akademieprofessor Franz Skarbina genommen, hatte in Paris bei Neoimpressionisten an der renommierten Académie Julian gelernt, war eine anerkannte Grafikerin. Elisabeth Büchsel war, kaum volljährig, auf eigene Faust nach Paris gegangen, hatte an der Académie Colarossi studiert und sich dort ihren Lebensunterhalt mit Porträts verdient. Julie Wolfthorn, die allerdings erst 1927 beitrat, war Gründungsmitglied der Berliner Secession, mit der sich eine Gruppe von bildenden Künstlern um Max Liebermann vom konventionellen akademischen Kunstverständnis abspaltete. Käthe Loewenthal hatte Unterricht bei dem Landschaftsmaler Ferdinand Hodler in der Schweiz, an der Malschule Zeven, in München und Stuttgart und war Mitglied der Stuttgarter Secession. Diese Künstlerinnen konnten bereits von ihren Bildern leben. Einige hatten an großen Ausstellungen in Berlin und Dresden teilgenommen, als sie nach Hiddensee kamen.

1924 hieß es in einem verbreiteten Hiddensee-Reiseführer: "Eine Bilderausstellung befindet sich nahe der Windmühle in dem Strohdachhause No. 14b, von den Berlinern 'Kunstscheune' genannt ..., heute im Besitz einer kunstliebenden Geheimratswitwe". Gemeint ist wieder Henni Lehmann, die 1919 von der Bäckerfamilie Schwartz eine Scheune erworben hatte und darin ein Atelier und eine Galerie für den Künstlerinnenbund einrichtete. Die "Blaue Scheune" ist noch heute Galerie und Anziehungspunkt in Vitte. Henni Lehmann hatte sich immer für die Förderung von Künstlerinnen eingesetzt - gerade weil ihr und ihren Kolleginnen ständig das Wort "Malweiber" nachhing. Unter den Frauen, schrieb sie, werde eine "unerträgliche Schar von Dilettantinnen gezüchtet", die "die ernsthafte Frauenkunst als solche diskreditieren". Sogar Alfred Lichtwark, der künstlerisch so reformfreudige Direktor der Hamburger Kunsthalle, hatte vom Potenzial der Frauen keine hohe Meinung. Einer Rat suchenden Mutter antwortete er: "Warum lassen Sie Ihre Tochter nicht ordentlich kochen lernen? Es gibt so viele schlechte Künstlerinnen und so wenige gute Köchinnen."

Aber nicht zufällig fiel der Aufbruch der Frauen zusammen mit dem Aufbruch in der gesamten Kunstszene. Vielen Malern und Malerinnen erschien der von Akademien reglementierte Kunstbetrieb erstarrt. Landschaftsmalerei, vor allem das Malen in freier Natur wurden als neues schöpferisches Feld entdeckt, als Kontrast zum wilhelminischen Pomp und zur Industriestadt. Künstlerkolonien schossen wie Pilze aus dem Boden, etwa in Dachau und Murnau, in Worpswede, Dötlingen, Ahrenshoop und Nidden. "Künstlerkolonien waren eine eher versöhnliche Antwort auf die Zumutungen der Moderne - es gab auch härtere, großstädtischere Antworten etwa in der Avantgardekunst", sagt Angela Rapp.

Es war eine Art Aussteigerbewegung: Die Natur forderte ein neues Sehen und Empfinden, eine künstlerische und seelische Auseinandersetzung mit den Stimmungen von Licht und Schatten, Wolken, Wasser und Einsamkeit; Zwänge und Spielregeln der offiziellen Großkunst traten zurück. Das faszinierte besonders die malenden Frauen. Paula Modersohn, die ihre Ausbildung auch in London, Berlin, Bremen und Paris zusammenstückelte, fand in der Künstlerkolonie Worpswede gleichberechtigte Aufnahme, wichtige Anstöße, interessierte Kollegen. Anna Gerresheim, Elisabeth von Eicken und auch Hedwig Woermann, die Hamburger Reedertochter, fanden ein ähnliches Umfeld in der Künstlerkolonie Ahrenshoop. Mit den Malerinnen erreichte die junge Moderne auch Hiddensee.

Henni Lehmann ist dem klassisch-realistischen Malstil im Wesentlichen am treuesten geblieben. Elisabeth Büchsel, die plattdeutsch sprach und wie die Einheimischen sehr bescheiden lebte, hat immer wieder mit großer Begabung Einheimische dargestellt, vor allem ihre Kinder-Bilder scheinen von innen zu leuchten. Andere Künstlerinnen, etwa Käthe Loewenthal, zeigten bereits eine impressionistische Grundhaltung, indem sie Landschaften in Farbflächen und -tupfer auslösten. Julie Wolfthorn war in Berlin schon eine anerkannte Porträtmalerin und hatte zahlreiche avantgardistische Grafiken und Titelbilder gestaltet, bevor sie um 1912 nach Hiddensee kam. Als Künstlerin hatte sie sicher das stilistisch breiteste Ausdrucksvermögen, das deutlich den Einfluss der Sezession spiegelt.

Erst 2007 ist Wolfthorns Werk mit einer Ausstellung in Berlin wiederentdeckt worden - nach rund 70 Jahren. Denn Julie Wolfthorn war Jüdin - wie auch Klara Arnheim, Henni Lehmann und Käthe Loewenthal. Mit der Machtergreifung der Nazis wurden sie aus allen Verbänden ausgeschlossen, mit Arbeitsverbot belegt und durften auch Hiddensee nicht mehr besuchen. Henni Lehmann musste Haus und Scheune verkaufen. 1937 nahm sie sich das Leben. Ihre drei Kolleginnen wurden deportiert und in KZs ermordet, Käthe Loewenthal in Izbica (Polen), Klara Arnheim und Julie Wolfthorn in Theresienstadt. Viele ihrer Werke wurden vernichtet. Es war das Ende des Hiddensoer Künstlerinnenbundes.

Zum Glück aber nicht das Ende der Geschichte. Im September 2011 präsentierte die Kunstauktion in Ahrenshoop auch Werke der "Malcousinen" von Hiddensee. Julie Wolfthorns Gemälde "Fischerfrauen am Gehöft. Hiddensee", taxiert auf bis zu 4800 Euro, erzielte 10 000 Euro, Elisabeth Büchsels "Inselblick" auf Strand und Meer von Hiddensee sogar 11 000 Euro. Büchsel blieb auf Hiddensee bis kurz vor ihrem Tod 1957. Sogar als die Rote Armee die Insel einnahm, soll sie stoisch weitergemalt haben - am Porträt eines Kindes.