Um 1830 wurde Baden im Meer auch in Deutschland immer beliebter. Aber in Urlaubshotels galten strenge Regeln - nur die Architektur war verspielt

Es wird immer mehr Sitte, ins Seebad zu reisen. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es nur den reichen Leuten vergönnt, allsommerlich einige Wochen an der Küste zu weilen, jetzt aber eilen jedes Jahr, wenn die Hitze der Hundstage kommt, viele Tausende aus den Mauern der Großstadt an den Strand. Die bestehenden Bäder vergrößern sich in riesigem Maße, und neue werden gegründet. Ob dieser Fremdenstrom an den sonst einsamen Küsten eine in jeder Beziehung erfreuliche Wirkung hat?"

So lautet 1907 eine Zwischenbilanz zum Seebäderbetrieb an der Ostsee in einem Mecklenburger Heimatblatt. Kaum anders sah es an der Nordsee aus. An beiden Stränden stiegen die Gästezahlen kontinuierlich an. Pompöse Hotels und Jugendstil-Villen schossen aus dem Boden, wo vorher verschlafene Fischernester lagen und sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten.

Auf Usedom und Rügen etablierte sich gar eine eigene "Bäderarchitektur" - jener Stil, der eigentlich gar keiner ist, sondern sich aus der Schatzkiste baulicher Künste herausholte, was gefiel: Putten und Pilaster, Simse, Spitztürme und Säulen, Freitreppen, Veranden, Loggien und Laubsägephantasien an Balkonen und Balustraden. Fast alles weiß lackiert!

"Seeblick" oder "Dünenblick" stand in geschwungenen Lettern an Quartieren in unmittelbarer Strandnähe. Andere firmierten unter "Seeschlösschen", "Seepferdchen", "Seestern", "Meereswoge", "Augusta", "Luise", "Wilhelmine". Und gern glänzte an den Fassaden "Germania", "Concordia", "Bismarck" oder "Kaiserhof". Kurhäuser und "Restaurations-Säle" baten mittags in Gesellschaftstoilette zur Table d'hôte. Das mehrgängige Menü umfasste Suppen, Braten, Omeletts, Seefisch, Austern, Garnelen, Lachs. Dazu trank man Champagner und Rheinwein und zum Dessert einen gehaltvollen "Porter".

Die Mittagstafel, immer zur selben Uhrzeit mit festen Plätzen, diente der Kommunikation, erklärt 1833 eine Chronik über "Die Seebäder auf Norderney, Wangeroog und Helgoland": "Man macht hier Bekanntschaften mit dem Badepublikum, das immer ein gebildetes ist, und wird bald in die Mitte desselben aufgenommen, wenn man nicht seinen Egoismus geltend machen will."

Aus England war die Seebäderkultur an die deutschen Küsten geschwappt. Schon im 18. Jahrhundert hatten Brighton, Hastings, Margate, Southampton und etliche Orte mehr von sich reden gemacht. Im Geiste des Aufklärers Jean-Jacques Rousseau, der in seinem Roman "Emile oder Über die Erziehung" (1762) zum Baden und Schwimmen riet, eröffnete das erste französische Seebad kurz darauf in Dieppe. Die Seebäder Deauville und Biarritz entstanden erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Das belgische Ostende avancierte zum Seebad von Weltruf während der Belle Epoque.

"Warum hat Deutschland noch kein öffentliches Bad?" Unter diesem Titel brachte Georg Christoph Lichtenberg 1792 ein Pamphlet heraus, das unter Ärzten ein großes positives Echo fand. Dabei begeisterten vor allem die Ausführungen des Göttinger Naturwissenschaftlers zum Meer: "Der Anblick der Meereswogen, ihr Leuchten und das Rollen ihres Donners, der sich auch in den Sommermonaten zuweilen hören lässt, gegen welchen der hoch gepriesene Rheinfall wohl bloßer Waschbecken-Tumult ist."

1793 feierte Heiligendamm die erste Badesaison an einem deutschen Strand. Zum fürstlichen Badearzt kürte Herzog Friedrich Franz I. von Mecklenburg-Schwerin den Rostocker Medizinprofessor Samuel Gottlieb Vogel. Dieser formulierte sogleich Allgemeine Baderegeln, achtzehn an der Zahl, darunter vor allem Warnungen, dass man nie "bald nach Tische und mit vollem Magen" baden sollte, ebenso wenig in erhitztem Zustand oder "unmittelbar nach einer heftigen Gemütsbewegung". Grundsätzlich empfahl Vogel, "wenn man von dem Bade rechten Vortheil haben will", es zweimal täglich zu wiederholen. Mehr als dreihundert Gäste quartierten sich bereits 1794 in Heiligendamm ein.

1797 ging Norderney als erstes deutsches Seebad an der Nordsee in die Seebädergeschichte ein. Bis 1830 folgten knapp drei Dutzend weitere Bäder, darunter Travemünde, Boltenhagen, Cuxhaven, Wangerooge, Wyk auf Föhr, Lauterbach bei Putbus, Zopott, Sassnitz, Misdroy und Helgoland. 1855 startete Westerlands Karriere zum "wilhelminischen Weltbad". Christian Peter Hansen, der große Syltchronist jener Zeit, als die Insel noch zu Dänemark gehörte, stellte zu den ersten "so genannten Badegästen" fest: "Alle rühmen die Naturmerkwürdigkeiten, die erfrischende und stärkende Luft und vor allem die heilende Kraft des Meeres."

Bevor die Dampfschifffahrt neue Reisewege erschloss, reisten die Gäste mit Postkutschen an. Die Fahrten waren oft beschwerlich und zogen sich bei einer Geschwindigkeit von maximal fünf Stundenkilometern über mehrere Tage hin. Mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes an die Küsten stieg der Fremdenverkehr rasant an. Und während anfangs Gäste aus Adel undFinanzoligarchie das Strandbild prägten, Hoheiten und Exzellenzen in Galauniform zur Tanz-Reunion stolzierten und in Knickerbockern Tennis spielten, kam nun das Bürgertum hinzu.

Die "kleinen Leute" folgten, nachdem der gesetzliche Urlaub eingeführt war, und das geschah für Arbeiter und Angestellte erst in den turbulenten Weimarer Jahren. Statt die Gesundheit zu pflegen, rückte mehr und mehr die pure Meereslust in den Vordergrund.

Nach 1880, als viele Seebäder diese Bezeichnung überhaupt erst verdienten, wurden Seebrücken gebaut - die längsten und prächtigsten in Sellin, Ahlbeck und Heringsdorf. Um die gleiche Zeit kam die "Bildpostkarte" auf. Kolorierte Seebädermotive mit eingeprägtem Gruß erfreuten sich besonderer Beliebtheit. Heute in Antiquariaten eine Seltenheit.

1901 empfahl Meyers Reiseführer für die Sommerfrische an der Nordsee: helle Oberkleidung für sonnige Tage, warme Unterkleidung für kühle Tage, Überschuhe, Regenmäntel, Überröcke, Plaids. Und für die Reiseapotheke: Heftpflaster, Salmiak, Chininpulver, Zitronensäure, Verbandwatte, Lanolin. "Will man dem Schiffsverkehr seine Aufmerksamkeit schenken, gehört ein Feldstecher ins Gepäck."

Fotobände und Seebäderporträts, die es in reicher Anzahl zu den Anfängen der Seebäder gibt, enthalten Geschichten und Anekdoten: über das Herrenbad und Damenbad, Kurtaxe und Kurschatten, "Lustfahrten" oder Gastspiele mit Demonstrationen rätselhafter Vorgänge aus dem Reich der vierten Dimension, zu Telepathie und Auto-Suggestion. Sphären des Unbewussten übten enorme Faszination aus, stiegen zu Themen der Unterhaltung auf, nachdem Sigmund Freuds "Traumdeutung" 1900 erschienen war. Der Wiener Seelenforscher besuchte mehrfach die Insel Hiddensee, wo sein Sohn Ernst ein bescheidenes Anwesen erworben hatte.

Doch da war die Kaiserzeit bereits vorbei, gehörte die Table d'hôte der Vergangenheit an. Theodor Fontane mochte das "Martyrium" nie, hatte immer wieder verlangt: "Weg mit den sieben Gängen, die bis zum letzten Bissen nichts präsentieren als einen Wettlauf zwischen Hungrigbleiben und Langeweile!" Zudem war ihm gehörig auf die Nerven gefallen, unentwegt aus jeder Musikmuschel "Heil dir im Siegerkranz!" blasen zu hören. Das ging auch anderen Gästen so. Und so wurden in vielen Seebädern bald "kleine separate Tischchen" eingeführt, wie es in einem Badeführer von Wyk auf Föhr 1902 heißt, "nicht gebunden an eine bestimmte Zeit".

Mit einigen Dutzend Gästen fing der Seebäderbetrieb an den deutschen Küsten an, vorm Ausbruch des Ersten Weltkrieges kletterte die Zahl bereits auf über eine halbe Million. Die "Besucherrekorde" erreichen heute allein auf den Inseln Rügen und Sylt jährlich jeweils um die sieben Millionen.