Im Pop-Jahr 2011 wurden Millionen Musiktitel in Deutschland verkauft. Aber gibt es den Gegenwarts-Pop überhaupt noch? Oder ist schon alles Retro?

Hamburg. Am erfolgreichsten in den deutschen Hitparaden waren im zur Neige gehenden Jahr die Künstler Adele, Udo Lindenberg und Herbert Grönemeyer - und das ist ja nicht verkehrt. Eine englische Popsängerin mit großer Stimme, zwei unverwüstliche deutsche Pop-Barden: Da kann man mit leben. Da können die mit leben, sie können es ganz gut. Auch im Pop-Jahr 2011 wurden Millionen Musiktitel in Deutschland an dem Mann gebracht, sei es in physischer oder digitaler Form. Die CD ist weiter das wichtigste Medium, sie wurde zuletzt mit etwa 100 Millionen Einheiten abgesetzt.

Was eindrucksvoll klingt, ist dennoch wohl wenig dazu angetan, den Verband der Musikindustrie milde zu stimmen. Denn natürlich war die Branche auch 2011 in der Dauerkrise - monetär gesehen. Seit die Kids (und alle anderen) Musik umsonst aus dem Netz saugen, ist die Pop-Ökonomie heftig aus dem Ruder geraten. Ein alter Hut, ein langweiliges Lamento, ein zweckloses Wehklagen: Mächtig auf gute Laune machen käme allerdings einem leicht durchschaubaren Gauklertrick gleich.

Dass kleine Bands und Musiker in der Nische mit Pop ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können, hat ja unter Umständen auch Auswirkungen auf die Pop-Produktion an sich, die immer auf die Bilderstürmer, Neuerer und Pioniere angewiesen war. Nicht, dass die Plattenfirmen diesen romantischen Erfindungstrieb für unerlässlich hielten; aber die avancierte Pop-Kritik schaut natürlich genau hin.

Und was sie in diesem Jahr fand, hatte eben in vielerlei Hinsicht viel mit der Krise zu tun, das wirtschaftliche Schwächeln ist eben auch ein ästhetisches: Das von dem englischen Musikjournalisten Simon Reynolds ausgerufene Motto "Retromania" war in aller Munde. Die Vergangenheitssucht des Pop hat auch etwas mit den Verkaufsgelüsten der Branche zu tun, die mit Wiederveröffentlichungen und Remastered-Boxen Geld verdient, das anderswo nicht mehr reinkommt.

Das ewige Revival äußerte sich aber auch in der schon seit etlichen Jahren sattsam bekannten rückwärts gewandten Sounds der angesagten Künstler, heißen sie nun Kings Of Leon, Wilco, Noel Gallagher (der Oasis-Überlebende) oder eben Adele.

Wer den Innovationsstau des Pop beklagt, der kann am Zeitalter des Retro natürlich nichts Gutes finden. Das halbjährlich erscheinende Pop-Periodikum "Testcard" spricht in seiner aktuellen Ausgabe (#21, Ventil Verlag, 15 Euro) vom Überlebenskampf des Pop, und das ist natürlich genau in dem Maße übertrieben, wie die Interpreten des Gegenwartsgeschehens stets ihre Beobachtungen formulieren: pointiert und zugespitzt. Der so bittersüß schmeckende Realitätshappen des sich selbst ausbeutenden Künstlers (Ein Idealist! Wie schön!) wird, so unken die Bedenkenträger der Musikpostille, bald nur noch fad sein, ohne Geschmack, tausendmal im Feinschmeckermund des Pop-Betriebs hin und her geschoben. Man möchte mal auch etwas Richtiges zwischen die Kiemen bekommen.

+++Udo Lindenberg: "Rocker gehen nicht in Rente"+++

Wer aber von seiner Kunst nicht leben kann, der schlägt wohl in Zukunft andere Berufswege ein, um Ruhm und Geld zu erlangen.

Der Brite Reynolds jedenfalls, der in einem Interview in besagter "Testcard"-Ausgabe zu Wort kommt, hat nicht nur Angst vor der Revival-Seligkeit unseres Zeitalters. Er sorgt sich um den Nachwuchs, der künftig vielleicht lieber Programmierer oder Trickfilmzeichner wird, als Hip-Hop-Beats, gesellschaftskritischen Sprechgesang oder verspielten, zitatsicheren und doch irgendwie eigentümlichen Indie-Rock (à la Animal Collective) zu produzieren. "Die Vorrangstellung von Pop in unserer Kultur", sagt Reynolds, gehe zurück; wir befänden uns deswegen in einem Teufelskreis, "in dem auf ein sinkendes Level von Prestige ein sinkender Zulauf von talentierten Köpfen in langsam versandenden Wellen folgen wird".

Dabei gab es doch 2011 einigermaßen geniale Platten, die kunstfertig waren und aus bereits Bestehendem etwas Eigenes, auf seine Weise Unvergleichliches machten: Destroyer ist das mit dem elegant-dekadenten Softpop-Werk "Kaputt" gelungen, Ja, Panik mit dem englisch-deutschen Songreigen "DMD KIU LIDT" und Kate Bush mit dem ätherischen "50 Words For Snow". Und dann war da ja auch noch die isländische Pop-Avantgardistin Björk, die die Musik vorantrieb - indem sie ihr Album "Biophilia" in vorher nicht gekannter Weise produzierte. Björk vermischte in ihren neuen Songs eine ganze Menge technologischer und Computer-generierter Elemente, die sowohl akustisch als auch optisch waren.

Was am Ende dabei herauskam, führte sie auf dem Manchester International Festival vor: eine neue Pop-Gattung, die sogleich "App-Pop" getauft wurde. Weil sie ihre Wirkung am besten auf dem iPad entfaltet, hier kann der User die grafische Begleitung der Songs miterleben. Das ist noch nicht alles, denn die Songs werden auch in Essays erklärt. Pop darf akademisch sein, Pop trickst manchmal auch ganz schön: Im Hinblick auf die Musik (die Songs sind nicht nur als Apps, sondern auch als Album erschienen) ist Björk nämlich genau so wie früher: irgendwie expressionistisch. Sie hat sich weiter vom Song-Konzept wegbewegt, ihre Kunst zeigt sich nicht in Melodien, sondern in einem Sound-Design.

So ist das ästhetisch Neue im Zusammenspiel multimedialer Gimmicks zu finden. Schön, dass es dabei wenigstens nicht so nostalgisch zugeht wie anderswo. Bezeichnend aber, dass ausgerechnet der Computer (wichtigstes Charakteristikum: Er kann wirklich alles) mit seiner technologischen Potenz das Werkzeug des neue Wege gehenden Künstlers ist. Ganz unschuldig an der Gegenbewegung, dem Archivieren, Wiederhören und vor allem Wiederfinden, ist die Technik nicht, im Gegenteil. Die Digitalisierung von Kulturgütern sorgt für eine allumfassende Speicherung, weshalb das Alte das Neue beinah erdrückt.

Was gab es 2011 außer den üblichen Re-Issues (The Smiths, U2, Nirvana)? Zum Beispiel ein Phänomen namens Lana Del Rey. Der Amerikanerin gelang eine tolle Debüt-Single ("Video Games"), deren Videoclip aus genau den visuellen Schnipseln besteht, die die "Broadcast yourself"-Generation so gerne auf YouTube hochlädt.

In Hamburg freute man sich über ein musikalisches Fräuleinwunder namens Boy und die neue Platte des sympathisch saumseligen Niels Frevert, und der norddeutsche Hymnenschreiber Thees Uhlmann ("Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf") kehrte aus Berlin zurück.

Tino Hanekamp, der Klubbetreiber von St. Pauli, macht immer noch keine Musik, schrieb aber so etwas wie einen Pop-Roman, der wie ein trotziges Lebenszeichen der Popmusik klingt: "So was von da."